Am ersten Samstag im neuen Jahr ging er wieder in die Bibliothek. Sie war schon einige Wochen nicht mehr dort gewesen. Er hatte angefangen sich Sorgen zu machen, doch hatte den Grund für ihr Fehlen auf die stressige Weihnachtszeit geschoben.
Der schäbige Sessel am Fenster war besetzt. Dort saß ein kleiner Junge, etwa neun Jahre alt, und blätterte in einem alten Buch, das unverkennbar aus dem Regal der Klassiker stammte. Er hatte sich im Sessel zusammengerollt und eine Thermoskanne stand neben ihm auf einem Beistelltisch. Da er den kleinen Jungen nicht stören wollte, drehte er sich um und wollte gerade gehen, als der Junge mit seinem Fuß gegen die Thermoskanne stieß, die daraufhin umkippte und ihren gesamten Inhalt über das Buch ergoss. Der Junge schaute erschrocken. Dann stiegen ihm Tränen in die Augen. “Gigi?“ Seine Stimme war leise, als er den Namen aussprach. Der Bibliothekar hatte das Scheppern der Thermoskanne gehört und kam angerannt. Als er das feuchte Buch sah, fing er an, den Jungen anzuschreien. Eine Frau rannte zu dem Jungen. Sie. Sie kniete sich neben den Jungen und redete in schnellem Französisch auf ihn ein. Der Bibliothekar schrie nun sie an, dass sie besser auf ihr Kind aufpassen solle. Sie versuchte ihn zu beruhigen, doch er forderte sie auf, das Buch zu bezahlen und dann die Bibliothek zu verlassen. Als sie ihm erklärte, dass sie kein Geld dabei habe, wollte er ihren Namen und ihre Telefonnummer wissen. “Giselle.“ Sagte sie ruhig und legte tröstend ihren Arm um das Kind. Doch bevor der Bibliothekar etwas aufschreiben konnte, trat er hinter dem Regal hervor. “Ich bezahle für sie.“, sagte er und hielt dem Bibliothekar einen 50€-Schein hin. Die Frau schaute ihn ungläubig an. Dann nahm sie die Hand des Jungen, bedankte sich bei ihm und eilte aus der Bibliothek.
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Giselle
Short StoryJeden Samstag sah er sie in der Bibliothek. Und jeden Samstag bezauberte sie ihn aufs neue.