Kapitel 1

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„Auch Dinge, die wir nicht verstehen,

geschehen aus einem bestimmten Grund."

Aus dem Autoradio drang leise eine krächzende Stimme, die den nächsten Song ankündigte, zu mir auf dem Rücksitz. Als die ersten Klänge ertönten, drehte meine Mutter mit schmalen, schlanken Fingern die Lautstärke kaum merklich auf. Ein Weihnachtssong. Dabei waren es über zwei Monate bis zum Fest der Liebe. Meine Eltern sahen sich an und während ein breites Grinsen ihr Gesicht erhellte, rollte mein Vater amüsiert die Augen. Ich beobachtete die beiden Menschen, die ich so sehr liebte, die Menschen, die meine ganze Welt ausmachten.

Die dünne Schneeschicht auf den Straßen glitzerte und funkelte im Scheinwerferlicht, das nur einen kegelförmigen Bereich vor dem Auto zu erhellen vermochte. Sonst herrschte absolute Dunkelheit, denn der Mond schaffte es nicht, sich gegen die dichten Wolken am Himmel durchzusetzen. Der Wald, der sich neben der unbeleuchteten Landstraße erstreckte, verschluckte auf das letzte Bisschen natürliches Licht. Einzelne Zweige wiegten sich im schwachen Wind und bildeten gruselig aussehende Gestalten, wenn sie vom Scheinwerfer angeleuchtet wurden. Ein kalter Schauer kroch mir den Rücken herunter. Ich zog die weiche Decke, die ich mir während der Fahrt umgelegt hatte, enger um mich herum. Dann zwang ich meinen Blick zurück zu meinem Vater. Seine Finger umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten und seine Augen blieben fast immer auf die Straße gerichtet. Fast, denn als er bemerkte, wie ich ihn beobachtete, schnitt er lautlose Grimassen in den Rückspiegel. Unwillkürlich kicherte ich vor mich hin und erregte damit die Aufmerksamkeit meiner Mutter, die mich irritiert ansah.
»Worüber lachst du schon wieder?«, fragte sie, freute sich aber sichtlich über mein Lachen. Ihre Augen strahlten in einem Bernsteingold und sie hielt sich mit einer Hand die hellbraunen Haare aus dem Gesicht. Sie liebte mich. Sie liebte mich mehr als alles andere auf dieser Welt. Diese Art Liebe, die eine Mutter für ihr Kind empfand, die Liebe, für die sie seit meiner Geburt lebte. Wärme breitete sich in meiner Brust aus, die mir die Tränen in die Augen trieb. Plötzlich verlor mein Vater die Kontrolle über das Fahrzeug und es geriet ins Schleudern. Innerhalb weniger Sekunden überschlug sich das Auto und landete mit dem Dach auf dem Boden. Rotes Blut leuchtete überall, wo ich hinsah und der Winkel, in dem die Körperteile meiner Eltern lagen, sah schrecklich falsch aus.

Mit weit aufgerissenen Augen fuhr ich aus dem Bett hoch. Mein Herz schlug laut in meiner Brust und ich atmete viel zu hektisch. Ein Zittern bebte in meinem Körper, der soeben aus dem Albtraum gerissen wurde, der mich seit dem Tod meiner Eltern vor zwanzig Jahren verfolgte. Meine Finger hatten sich so sehr in die Decke gekrallt, dass ich sie nun schmerzhaft löste und die Hände ausschüttelte. Seufzend rieb ich mir über die Augen und fuhr mir durchs Haar, das meiner Mutter so ähnlich war. Der Vollmond stand hoch am Himmel und warf ein schwaches, silbernes Licht durch das Fenster in mein Zimmer. Es war mitten in der Nacht. Die Nächte, in denen ich ohne Albträume wach wurde, ließen sich an einer Hand abzählen. Bo, mein übergewichtiger Kater lag zusammengerollt neben mir und schnurrte zufrieden vor sich hin, als würden ihn meine Probleme so überhaupt nicht interessieren. Vielleicht hatte er sich auch einfach schon daran gewöhnt. Ich streichelte über das weiche, rote Fell und genoss die beruhigende Bewegung, bis sein Schnurren mich wieder in den Schlaf lullte.

Eine Weile später vernahm ich ein regelmäßiges grelles Piepen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis mein Gehirn realisierte, dass es der Wecker war, der mich aus meinem Schlaf riss. Murrend und ohne die Augen zu öffnen, tastete ich nach dem störenden Ding, um diesen viel zu lauten Ton zum Schweigen zu bringen. Nach einigen Fehlversuchen fand ich den richtigen Knopf und der Wecker verstummte. Als es wieder Stille herrschte, atmete ich entspannt aus und drehte mich genüsslich auf die andere Seite. Die letzte Nacht waren keine erholsamen Stunden gewesen und ich kostete jede Sekunde Schlaf aus. Nur noch ein paar Minuten, dann würde ich aufstehen.
Versprochen.

[LESEPROBE] Der nächste SeelenfängerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt