Kapitel 4

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Meine einzige? Das war seine Antwort? Ich starrte den Seelenfänger irritiert an, denn offensichtlich hatte ich einen wichtigen Teil der Unterhaltung wohl verpasst. Oder ich war wie so oft unaufmerksam gewesen und hatte das Offensichtliche schlichtweg übersehen. Das war typisch für mich. Ich verstand die komplexesten Zusammen-hänge, aber nicht die einfachsten Worte.

»Ähm, ich kann keine Aufgabe für dich erfüllen. Wenn ich gesund bin, muss ich wieder im Kindergarten arbeiten und ich habe Tausend Aufgaben zu erledigen. Nicht bloß eine«, gab ich schüchtern zurück und hatte dabei irgendwie Angst, ihn zu verärgern. Der Seelenfänger aber schüttelte nur unberührt den Kopf.

»Ich glaube, das hast du falsch verstanden. Du hast in dieser Hinsicht kein Mitspracherecht.« Die Art und Weise wie er die Worte aussprach, ließen keinen Zweifel daran, dass ich keine Wahl hatte und dass er mir vorschrieb, was ich zukünftig tun würde.

Ein Gefühl der Machtlosigkeit breitete sich in mir aus und erdrückte mich. Man hatte mich nicht gefragt, als man mir meine geliebten Eltern genommen hatte, man hatte mich nicht gefragt, ob ich den für mich eigentlich tödlichen Unfall hatte überleben wollen und man hatte mich auch nicht gefragt, ob ich diesen zweiten Unfall überleben wollte. Langsam hatte ich es satt, dass andere über mein Leben bestimmten und mir keine Wahl ließen. Die meiste Zeit konnte ich nur machtlos zusehen, wie mein Leben seinen merkwürdigen Lauf nahm.

Jetzt explodierte rasende Wut in mir, weil ich mir von niemanden etwas vorschreiben lassen wollte. Das hatte ich mein Leben lang nicht getan und damit würde ich jetzt sicher nicht anfangen. Solange ich mich wehren konnte, würde ich das auch tun.

»Ich kann deine Aufgabe nicht erledigen.« Dieses Mal mutiger aber auch wieder gefasster, legte ich mehr Nachdruck in meine Worte und versuchte so selbstbewusst wie möglich zu klingen. Auf gar keinen Fall würde ich zulassen, dass ich wie ein kleines, ängstliches Mädchen dalag, das kampflos aufgab. Egal, wie schwer es je gewesen war, aufgeben war für mich nie eine Option gewesen. Ich war beinahe überrascht, wie fest und endgültig meine Stimme bei der Antwort klang. Einen Moment sah der Seelenfänger mich schweigend an, doch als er nach einem tiefen Seufzer durch die Wand verschwand, war ich mir sicher, ihn überzeugt zu haben. Erst als auch die letzten Schwingungen des Seelenfängers sich im Nichts auflösten, drangen die Geräusche meiner Umgebung wieder bis zu meinen Ohren vor.

Wärme breitete sich im Raum aus und war im Vergleich zu der eisigen Kälte, die der Seelenfänger mit sich brachte, beinahe wie eine Hitzewelle im Sommer. Das Zwitschern der Vögel ertönte fröhlich und es kam mir vor, als hätte jedes Lebewesen zuvor geschwiegen, um meinem Gespräch mit dem Seelenfänger zu lauschen. Die bedrückende Stille war mir in der kuriosen Situation gar nicht aufgefallen.

Noch eine Weile blieb mein Blick an der Stelle hängen, an der der Seelenfänger gestanden hatte und ich ließ dabei die letzten zwei Tage noch einmal Revue passieren. Ich war wohl vom Pech verfolgt, wenn man bedachte, dass ich erst den Unfall hatte und nun der Tod wortwörtlich an mir klebte. Da konnte die in meinen Augen zu freundliche Bezeichnung "Seelenfänger" die Situation auch nicht mehr verharmlosen.

Ich seufzte.

Vielleicht würde er ja einfach nicht wieder kommen und ich könnte so tun, als wäre das alles nicht passiert.

Na klar Mira, so wird es sein, ganz sicher!

Selbst wenn er nicht mehr wieder kommen würde, was höchst unwahrscheinlich war, so würden mich doch die schmerzenden Rippen und das verletzte Bein noch eine Weile an den Unfall erinnern. Darüber hinaus würden mich die tragischen Bilder daran wohl niemals loslassen. Meine einzige Hoffnung lag darin, dass alles sehr schnell verheilen würde und ich auf der Arbeit einwandfrei den frechen Kindern nachlaufen können würde, wenn sie sich mal wieder weigerten aufzuräumen. Erneut entfuhr mir ein sehnsüchtiger Seufzer. Ich vermisste meine Arbeit, ich vermisste die Kinder, den Lärm und ja, sogar den Stress und den Zeitdruck. Das war einfach seit fast einem Jahr das Leben, für das ich mich entschieden hatte. Es war mein Leben und ich liebte es.

[LESEPROBE] Der nächste SeelenfängerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt