Kapitel 2

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In der Ecke meines Einzelzimmers stand ein Mann und betrachtete mich mit einem emotionslosen Ausdruck im Gesicht, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Wie zur Hölle war er in mein Zimmer gekommen?

Das war unmöglich. Ich hätte ihn doch bemerkt. Sein langer, schwarzer Mantel, der ihm bis zu den Füßen reichte, hing eng an ihm herab und untermalte seine steife Haltung. Die schulterlangen, dunkelbraunen Haare wirkten im Vergleich zu den blass silbergrau leuchtenden Augen fast zu normal und störten das dunkle Gesamtbild.

Erst als der Mann mir seine Hand hinhielt, realisierte mein Gehirn, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Vor meinem inneren Auge schossen Bilder des Autounfalls vorbei, während die Puzzleteile meiner fehlenden Erinnerung wieder zusammengesetzt wurden. Als ich schließlich bei dem Bild angelangt war, bei dem ich in den blauen Himmel sah und mich dann die Dunkelheit verschluckte, verlangsamte sich alles in Zeitlupe. Erneut sah ich meine Eltern, meine Pflegeeltern Emma und Tobias und Jill. Ich sah auch den Mann wieder, wie er die gleiche Haltung eingenommen hatte, wie er es jetzt in meinem Zimmer tat.

Sofort wurde ich wieder in das Hier und Jetzt katapultiert und musste schwer schlucken, weil ich Angst hatte. Ungeheure Angst vor dem Mann.

Abgesehen davon noch jemanden zu verlieren, der mir am Herzen lag, gab es nichts, vor dem ich mich fürchtete. Bis jetzt jedenfalls. Mein Puls raste und ich hörte mein Blut in den Ohren rauschen. Eine feine verräterische Gänsehaut überzog meine Arme und kribbelte in meinem Nacken, als ich von der großen, ausgestreckten Hand wieder in diese Augen sah, in denen man das schwache Leuchten nur erkennen konnte, wenn man genau hinsah. Je mehr Sekunden vergingen, desto mehr wuchs meine Angst zu einem großen Ungeheuer, das meinen Körper lähmte. Ich wollte nach Hilfe rufen, nahm es mir immer wieder vor, aber jedes Mal, wenn ich den Mund öffnete, blieben mir die Worte im Hals stecken. Mein Herz pochte aufgeregt in meiner Brust und wirkte dabei, als hätte es einen eigenen Willen und wolle fliehen.

In normalen Situationen glaubte ich nicht an Übernatürliches. Aber das hier war kein gewöhnlicher Moment und dieses Etwas in der Ecke war auch sicher kein Mensch. Menschen hatten Emotionen, eine ganze Menge sogar und ihre Augen leuchteten auch nicht wie die der Aliens in einem schlechten Horrorfilm. Diese Gestalt hatte alles, was einen Albtraum zu dem schlimmsten deines Lebens machte.

Die Atmosphäre war so eisig, dass sich kleine Wölkchen vor meinem Gesicht bildeten. Ich wollte rennen, schreien oder zumindest wegsehen, aber ich war wie gebannt. Dann bewegte sich der Mund des Mannes, aber ich hörte seine Worte nicht. Viel zu laut war das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren. Meine Lungen brannten, weil ich vergessen hatte zu atmen und meine Augen schmerzten, weil ich nicht wagte zu Blinzeln. Mit einer sehr langsamen Bewegung führte ich meine Hand zu meinem Arm um mich zu kneifen, in der Hoffnung daraufhin eventuell aus einem Traum aufzuwachen. Aber nichts geschah. Vielleicht träumte ich zu tief. Ich kniff die Augen so fest zusammen, dass es beinahe schmerzte und flüsterte mir dann panisch beruhigende Worte zu.

»Das ist nur ein Traum. Entspann dich. Das ist nur ein Traum.«

Als ein kräftiges Klopfen erklang, starrte ich erst zur Tür und dann zum Fenster. Der Mann war weg. Durch die nun offene Tür kam eine Pflegerin mit einem Tablett und warf mir einen besorgten Blick zu.

»Haben Sie gerade mit jemandem geredet?«, fragte sie und sah mich dabei neugierig an. Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg und mein Kopf auf der Suche nach einer Erklärung schmerzte. Was passierte hier?

»Ich führe manchmal Selbstgespräche, wenn ich alleine bin.« Peinlich berührt sah ich auf meine Finger, die über den feinen Stoff der Decke strichen, als wäre das eine wichtige Aufgabe. Das war nicht gerade meine beste Ausrede gewesen, aber eine bessere war mir nicht eingefallen.

[LESEPROBE] Der nächste SeelenfängerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt