21: Von Ethikbüchern & Grizlis

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Ich ging an der Bibliothek vorbei und beschloss spontan hinein zu gehen. Eine Sache ließ mir keine Ruhe.
Ich sah mir die Gänge zwischen den Bücherregalen an und fuhr mit meinen Fingern an Buchrücken entlang. Dann ging ich zur Frau an dem Infoschalter.
"Guten Morgen, wo kann ich denn die alten Ethikbücher finden?", fragte ich sie freundlich.
"Die alten Ethikbücher? Danach hat sich ja lange keiner mehr erkundigt", sagte sie überrascht.
"Na dann wurde es wieder Zeit. Also?" Ich lächelte freundlich, um bloß keinen Verdacht auf mich zu lenken.
"Dafür musst du nach oben und dann ganz hinten durchgehen. Der letzte und vorletzte Gang rechts."
"Dankeschön", sagte ich freundlich, dennoch spürte ich merkwürdige Blicke von ihr auf meinem Rücken, als ich ging. Ich stieg die Treppen hinauf und ging dann nach ganz hinten durch. Hier oben befanden sich viele ältere Bücher und die moderneren waren wohl unten, sowie viele Filme.

Bei dem letzten Bücherregal bog ich nach rechts. Ich ging wieder den Gang entlang und striff mit meinen Fingern über die ganzen Bücher. Diese waren viel staubiger als die unten. Ich blieb zwischendurch stehen und sah mir die Titel an: Das Leben und wie weiter? oder Leben oder Tod?-Gibt es Unterschiede? 
Eigentlich waren diese Bücher nichts für mich, denn ich dachte viel zu realistisch dafür und-
"Was machst DU denn bitte bei den alten Ethikbüchern?" Blitzschnell drehte ich mich um. Leonardo!
"Na, anschauen", meinte ich wie selbstverständlich und zuckte mit den Schultern.
"Ja aber DU? Du sagst doch immer was dir im Kopf herumschwirrt und denkst erst im Nachhinein darüber nach, ob es so klug war, das zu sagen", verschränkte er seine Arme.
"Ja und? Dir scheint es ja zu gefallen."
"Mir?", zog er beide Augenbrauen hoch.  
"Ja", sagte ich und trat näher an ihn heran. "Wer hat mich denn geküsst?"
"Was tust du wirklich hier?", fragte er und sah zu mir runter.
"Könnte ich dich genauso gut fragen."
"Ach komm, jetzt sag schon. Ich hab eine wage Vermutung und ich bitte dich, mir diese Vermutung aus dem Kopf zu schlagen."

Sollte ich ihm wirklich sagen, warum ich hier war? Ich fing an wieder leicht auf meiner Lippe herum zu kauen. Er trat näher und hob die Hand. Dann legte er sie an meine Wange, doch mit dem Daumen befreite er meine Unterlippe von meinen Zähnen.
"Sie werden Roberta nichts antun, solange sie nur vorhaben, ihren Vater zu erpressen", sagte ich, um das Thema zu wechseln. "Falls es um etwas anderes geht, dann sollten wir uns auf jeden Fall beeilen, denn dann könnte es glaub ich schlimmer ausgehen."
"Interessant. Und wie kommst du darauf?"
"Habe ich geträumt."
"Geträumt?", fragte er skeptisch und hob eine Augenbraue.
"Ganz genau. Geträumt! Und es war kein angenehmer Traum!" Demonstrativ schüttelte ich meinen Kopf.
"Oh, dann tut es mir aber leid", tat er mitleidig.
"Kauf ich dir nicht ab", schmollte ich. Er fing an zu grinsen. "Dann eben nicht."

Er kam noch näher, dann ging er um mich herum, doch bevor ich mich umdrehte, hatte er schon seine Hände an meine Hüfte gelegt. Er beugte sich zu meinem Ohr und seine Stimme verpasste mir eine Gänsehaut.
"Nun komm schon, sag mir, warum du hier bist", versuchte er es schon wieder. Es war gemein. ER war gemein! Wieso nutzte er jetzt aus, dass ich ihn so gern hatte?
Ich kniff meine Augen zusammen und schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht. Ich bleibe jetzt stark!"
"Ach komm schon...du weißt, wie es dir gefällt und ich weiß es auch. Also versuch nicht so zu tun, als würde es dir nichts ausmachen hier so zu stehen." Er hatte recht! Sowas von recht!
"Leo! Bitte lass das!" Ich versuchte mich zu befreien, doch er hielt mich viel zu fest.
"Alex! Sag mir bitte erst warum du noch vorm Unterricht hier bist!"
"Der Unterricht! Tja, Lia wartet sicher schon auf mich", sagte ich, wobei mir Lia in einem leicht eifersüchtigen Ton über die Lippen kam. Und so gut Leonardo als Spion war, merkte er es natürlich.
"Also hat es was mit Lia zu tun...ich glaub, du hast meine Vermutung gerade leider bestätigt."
Ich seufzte. "Ja...okay. Lia hat davon erzählt, wie du sie hier fast geküsst hast und...und dann wollte ich einfach mal schauen, wo das genau war und ob hier wirklich so ruhig ist und scheiße! Wieso bist du nur auch Spion!"

Er drehte mich an den Schultern um und sah mir fest in die Augen. "Alex, hör mal. Gestern Abend wollte ich Lia zu erst küssen, doch ich konnte es noch schnell verhindern. Geküsst habe ich doch wen ganz anderes, also sei nicht so eifersüchtig auf deine Freundin, die dich jetzt braucht, ja?"
"Hast ja recht, aber-"
"Kein Aber! Deinen Sturkopf setzt du dieses Mal nicht mehr durch, denn das hat uns letztes Mal in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht! Verstanden?"
"Pf...denkst du, nur weil du mich geküsst hast kannst du mich jetzt beeinflussen?", fragte ich lachend.
"Nein, ich glaube, jeder wird immer kläglich daran scheitern, deinen Sturkopf zu ändern!", lachte auch er.

Plötzlich tauchte eine ältere Dame mit einem Wagen voll Bücher auf. "Was macht ihr denn noch hier? Es ist gleich Unterrichtsbeginn!", sagte sie und streckte uns ihre Uhr am knochigen Handgelenk entgegen.
"Wir gehen jetzt doch auch, aber wir mussten noch eine Sache nachschauen", meinte ich gelassen.
"Schließlich wollen wir immer gut auf den Unterricht vorbereitet sein!", ergänzte Leonardo.
"Das hättet ihr schon gestern machen können! Jetzt aber schnell!", mahnte sie uns. Mit schnellen Schritten gingen wir dann auch aus der Bibliothek.
"Am Besten treffen wir uns nach dem Unterricht wieder in einem Klassenraum. So können wir weiter planen und so eine Art Regeln für den Außendienst aufstellen, damit uns nicht wieder so etwas passiert wie beim letzten Mal."
"Sonst hätten wir keine neuen Infos bekommen!", verteidigte ich mich.
"Du hättest keine Verletzungen!"
"Du hättest sie nicht verarzten können!", konterte ich und hob eine Augenbraue. Er öffnete den Mund und wollte etwas erwidern, doch sein Mund klappte wieder zu. Triumphierend lächelte ich und wir gingen zu den Klassenräumen. Wir mischten uns unter die Menschenmenge und anscheinend achtete niemand auf uns.

Ich huschte schnell auf meinen Platz und kaum hatte ich meine Sachen auf dem Tisch, kam auch schon der Lehrer hinein gestürmt und begrüßte uns.
"Da bist du ja! Wo warst du nur plötzlich? Wir haben dich überall gesucht!", flüsterte Lia mir von der Seite zu.
"Wer ist wir?"
"Na Leana, Francesca, Luna, Aurora und ich!"
"Ruhe dahinten! Sonst schreiben wir ein Diktat!", mahnte uns der Deutschlehrer. Er war gleichzeitig unser Relilehrer also hatte er die Stunden getauscht, weil wir bald noch eine Klausur schrieben.
"So, wer möchte die Hausaufgaben vortellen und seine Gedichtsanalyse vorlesen?", fragte er in die Runde. Ich kramte meine Zettel hervor. Ich war nicht gut in Gedichtsanalysen...deshalb wollte ich auf keinen Fall vorlesen. Wieso habe ich Flavia nicht gefragt ob sie mir helfen konnte? Sie war gut in sowas! Na ja, nun war es auch zu spät.
"Liliana! Dich habe ich lange nicht mehr gehört! Bitte komm nach vorne und stell uns deine Analyse vor."

Liliana trat vor die Klasse, schob ihre Brille etwas zurecht und fing an zu lesen. Sie hatte eine relativ gute Analyse geschrieben, jedenfalls besser als ich, und deswegen bekamen wir sie auch kopiert. Danach setzte sie sich und der Grizli, wie er genannt wurde, weil er groß und etwas kräftiger war, dazu noch viele Haare auf dem Kopf und einen relativ dicken, vollen Bart hatte, rief wieder jemanden auf. "Wer möchte denn die einzelnen sprachlichen Mittel mit deren Bedeutung für uns alle erklären?" Keiner meldete sich. Im Gegenteil, alle vermieden Blickkontakt. "Maria! Du hast doch sicher-"

TOCK. TOCK. TOCK.

Danke! Danke lieber Gott, dass genau jetzt jemand an der Tür klopfte!
Die Tür öffnete sich und eine der Sekretärinnen steckte den Kopf hinein. Sie war etwas kleiner, blond und hatte blaue Augen. Sie war wirklich nett.
"Darf ich kurz stören? Es ist ein Anruf für Maria Ponti eingegangen", sagte sie und suchte mich in der Klasse.  
"Das hat sicher noch Zeit bis später, nun befindet sie sich gerade in meinem Unterricht!"
Ich stand auf. "Dieser Anruf ist bestimmt wichtig! Wer weiß was passiert ist! Ich sollte schnell einmal dort vorbei gehen." Schnell schnappte ich meine Tasche.
"HALT! Du gehst nirgendwo hin, Maria!"
"Aber der Anrufer meinte es sei dringend", meldete sich die Frau im Türrahmen.
"Nichts ist dringender als mein Unterricht!" Er konnte einfach nicht locker lassen. Ich hasste solche Lehrer.
"Mir ist es wichtiger den dringenden Anruf entgegen zu nehmen, als hier zu sitzen und Gedichte zu analysieren! Also Ciao!", schnell verschwand ich aus der Tür und hörte noch wie der Grizli böse hinter mir her rief. Ich bekam bestimmt Nachsitzen oder eine extra Aufgabe.  

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