"Aaaaaaahhhh!"
Vor mir liegt kein Finger. Sondern etwas noch viel Grausigeres. Auf diesen Anblick könnte mich nichts, auch nicht der Fund am Bach, vorbereiten.
Ein Mensch. Und zwar nicht irgendein Mensch. Sondern meine Mutter. "BRIDGET!", schreie ich, kann das grenzenlose Entsetzen in meiner Stimme nicht verbergen. Abermillionen von Gedanken jagen durch meinen Kopf, kreiseln durch mein Gehirn und lassen mir keine Ruhe. Ich spüre, wie sich Schwindel in mir ausbreitet und mich zu Boden ziehen will. Ich gebe dem Sog nach, und im nächsten Moment liege ich auf dem Boden. Ich keuche auf, als ich hart auf dem Gras aufschlage, doch leider stoppt der Aufprall nicht den entsetzlichen Gedankenstrom in meinem Kopf. Ich kneife die Augen zusammen, bis Sternchen vor meinem Lid auftauchen, doch auch das kann nicht das grauenhafte Bild auslöschen, das sich in meinem Gehirn festgebrannt hat: Meine Mutter, auf dem Boden liegend, mit leicht geöffnetem Mund, aus dem Blut hinaustropft. Auch ihre Kleidung ist blutbeschmiert, hellrotes, frisches Blut, vermutlich noch warm und nass. Ob sie wohl...? Nein, den Gedanken kann ich einfach nicht erlauben. Mit aller Kraft verdränge ich die bohrende Frage, die sich seinen Weg an die Oberfläche aus der Flut an Überlegungen gebahnt hat.
Ich bleibe gefühlte Ewigkeiten auf dem Gras liegen, bis ich es nicht mehr aushalten kann, neben Bridget zu liegen, deren Zustand ich nicht einzuschätzen vermag. Ich öffne also vorsichtig die Augen - und schaue direkt in die meiner Mutter. Sie lebt noch, dass sehe ich ihr an. Auf einmal habe ich es gar nicht mehr so eilig, Hilfe zu holen - zu wissen, dass sie am Leben ist, beruhigt mich mehr, als ich dachte. Ich schaue sie an - Das Blassgrau ihrer und meiner Augen, der gleiche Anblick. Mein Blick wird in einen Strudel aus Grauschattierungen gesogen, ich verliere mich in den unendlichen Weiten in diesem Ozean der Farben - bis meine Mutter ihre Augen abwendet und den Mund zitternd zu öffnen versucht. "C-C..Caaailin...", krächzt sie, doch ich bremse sie aus:"Shhhh, jetzt nicht, Mutter, ich hole Hilfe." Schlagartig wird mir wieder die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst, und Panik steigt in mir hoch. Bridget liegt, blutüberströmt, am frühen Morgen in den Wiesen vor Hawthorne Castle, ein Finger, wessen auch immer, befindet sich ebenfalls blutbeschmutzt in der Nähe, ich weiß nicht, wer für diese Gräueltaten verantwortlich ist; und alles, worüber ich nachdenke, sind Augen. Als ob es gerade nichts Wichtigeres zu tun gibt! Meine Mutter allerdings scheint das anders zu sehen, denn sie schüttelt leicht, aber verzweifelt den Kopf und streckt plötzlich ihren Arm nach mir aus, wie um mich zum Bleiben zu zwingen. Doch ich weiche ebenso plötzlich zurück, denn...Der rechten Hand meiner Mutter fehlt ein Finger.
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Blassgrau wie der Ozean [nicht beendet]
Historical FictionSchottland, 1658. Die junge Cailin Forsyth führt mit ihrer Familie ein einsames Leben auf Hawthorne Castle, bis eines Tages etwas Schreckliches passiert. Und von dem Moment an befindet sich Cailin mitten in einem Netz aus Intrigen und Machtspielchen...