Kapitel 1

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P.o.V.: Lynn

Geburtstage. Geburtstage bedeuten für jeden etwas anderes. Geschenke, ein Jahr älter werden - Jeder hat seine Gründe, seinen Geburtstag zu mögen oder nicht.

Doch für mich waren meine Geburtstage Schritte. Jeder Geburtstag brachte mich näher an meinen Traum, mein Ziel: der 17. Geburtstag. Denn an diesem Tag würde sich alles ändern. Schon von Kind auf wurde meinem Bruder und mir erzählt, wie es ist plötzlich ist anders zu sein, wenn man 17 Jahre alt wird.

Denn man bekommt seine Kräfte. Nur das Schicksal bestimmt welche Kräfte, doch man bekommt mehr Stärke, Macht. Wie oft habe ich mir schon ausgemalt, welche Kräfte ich bekommen würde, als ich nicht einschlafen konnte? Unzählige Male.

Und heute ist es soweit. Heute ist mein 17. Geburtstag. Der wichtigste Tag im Leben eines Alterums, die Spezies der Übernatürlichen.

Überglücklich schwinge ich die Beine über den Bettrand, setze mich auf. Von heute an wird alles anders sein. Ungeduldig werfe ich mir das geblümtes Kleid über, welches ich immer zu besonderen und wichtigen Zeiten trage. Entschlossen sehe ich mich im Spiegel an. Mein Gesicht grinst mich überglücklich an. Dann stürme ich aus meinem Zimmer, die Treppen runter und renne prompt gegen meinen Zwillingsbruder, Dean.

„Dir auch ein guten Morgen", begrüßt er mich grinsend. Missbilligend sehe ich ihn an. Heute ist der große Tag, und er nimmt das so gelassen? Wie kann er so ruhig bleiben, er bekommt heute doch auch seine Kräfte! Allgemein sind wir uns nicht sehr ähnlich. „Bist du gar nicht aufgeregt?", frage ich und ziehe eine Augenbraue hoch. „Sicher, aber so hyperventilieren wie du muss auch nicht jeder", lacht er über mein Verhalten. Beleidigt streiche ich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wende meinen Blick auf die Tür, die zum Esszimmer führt. Noch ist sie zu. Noch. Es fühlt sich an, als würden meine neuen Fähigkeiten dahinter liegen, in unmittelbarer Nähe.

Plötzlich öffnet sich die Tür und meine Eltern lächeln uns stolz an. Sie sind stolz auf uns, dass wir unseren harten Weg bis zu dem heutigen Tag überwunden haben. „Alles Gute zum Geburtstag!" Erst jetzt bemerke ich, dass ich wirklich aufgeregt bin, denn meine Hände zittern und meine Beine sind weich wie Wackelpudding. Ich trete durch den Türrahmen, sehe auf den Tisch, auf dem zwei Kuchen stehen, einer für mich und einer für Dean. 17 Kerzen brennen und warten, von uns ausgepustet zu werden. Es ist wie immer - Geschenke und Kuchen. Wie jeder andere Geburtstag, und doch wird ab heute alles anders sein.

Als Dean und ich langsam zum Tisch vorgehen, kocht ein Kessel in meinem Bauch. Mein Herz klopft rasend schnell. So wie es scheint, habe ich immer noch nicht ganz realisiert, dass ich heute stärker, mächtiger werde. Und doch ist es so. Langsam beuge ich mich über den Tisch und schließe die Augen. Und dann puste ich. Ich öffne meine Augen und erblicke 17 erloschene Kerzen, genauso wie bei Dean. Mum und Dad klatschen und singen das Geburtstagslied, das die ganze Welt kennt. Mein Grinsen kann ich nicht ausschalten.

Während dem Essen reden wir über die Fähigkeiten, die wir bekommen könnten, und wie meine Eltern sie bemerkt haben. Dabei sehe ich mir meine Familienmitglieder genau nach der Reihe an, hoffe, dass sich etwas geändert hat, doch trotzdem ist immer noch dieses Gefühl, das ich seit ich denken kann habe, noch da: Ich habe mich noch nie als Tochter oder Schwester angenommen gefühlt. Kurz werde ich ein wenig traurig, starre appetitlos auf mein Stück Kuchen. Schnell schüttele ich den Kopf - Dieser Tag muss perfekt verlaufen.

Am Nachmittag ist nichts geplant, darum ziehe ich meine Sportsachen an, um einen kleinen Parcour zu unternehmen. Insgeheim hoffe ich eigentlich nur, dass ich dabei meine übernatürlichen Kräfte entdecke. Doch es passiert nichts. In meinem Bauch breitet sich ein komisches Gefühl aus, was so gar nicht passt: Bin ich vielleicht eine von den Unglücklichen? Der Gedanke um die Chance von 1%, dass man nicht übernatürliche Kräfte bekommt, schleicht sich in meinen Kopf und ankert sich fest. Die Zweifel kommen hoch und drohen mich zu verschlingen. Werde ich ein schwarzes Schaf in der Familie sein? Obwohl ich das schon immer war. Mein Bruder ist gut in der Schule, während ich lieber zu meinem Kick-box-Unterricht gehe und deswegen schlechte Noten habe.

Mit einem leichten schwungvollen Sprung über einen Baumstamm stehe ich schon vor meiner Lieblingsstelle. Routiniert greifen meine Hände nach den glatten Einkerbungen in dem Stein und ziehen mich weiter hoch, bis ich oben angelangt bin und auf das kleine, verschlafene Städtchen, in dem ich lebe, blicken kann. Ein innerer Frieden breitet sich in mir aus, denn hier bin ich alleine, hier kann ich ohne meine zahlreichen Masken leben. Ich bin nur ich selbst. Meine braunen Haare wehen im Wind und es fühlt sich so an, als würde der Wind auch meine Sorgen wegtragen.

Zuhause angekommen ist es bereit spät abends und ich falle müde in mein Bett. Kaum bin ich im gewohnten Zimmer, stürzt der Alltag auf mich ein und die Zweifel kommen wieder. Laut seufzend drehe ich mich in meinem Bett um. Als ob der Wind alle Sorgen wegtragen könnte. Was habe ich zu dem Zeitpunkt überhaupt gedacht? Ich werde - Nein, ich muss meine Fähigkeiten bekommen! Immerhin bin ich ein Alterum! Eine andere!

Ein Klopfen an meiner Zimmertür reißt mich aus meinen Gedanken. Mum tritt ein und schließt vorsichtig die Tür, dann setzt sie sich an mein Bett. Ich drehe mich zu ihr und setze mich auf. „Schatz... hast du Angst?", sagt sie sanft und streicht mir eine Strähne, dir mir ins Gesicht hängt, nach hinten. Gespielt lache ich auf. „Wie du es immer sagst, die Fähigkeiten werde ich schon entdecken." Sie lächelt jetzt auch. „Bitte mache dir keine Sorgen, selbst ohne Fähigkeiten bist du besonders." Ohne Fähigkeiten besonders sein? Das hört sich in meinem Kopf mehr als unlogisch an. „Was ist mit Dean?", versuche ich das Thema zu wechseln. Mum seufzt und rollt mit den Augen. „Gedanken lesen ist schon mal klar." Gedanken lesen ist nur für den Besitzer der Fähigkeit nützlich, darum verstehe ich Mums Gefühle gegenüber Deans erster Kraft. „Das heißt wohl keine Überraschungen mehr", grinse ich. Mum lacht und steht auf. Sie ist immer schon ein großer Fan von Überraschungen gewesen, die bei Dean jetzt nicht mehr so ganz wie sie will, funktionieren werden.

Als ich wieder alleine in meinem Zimmer bin, müde in meinem Bett liege, muss ich an Dean denken. Gedanken lesen. Er hat jetzt schon Macht und seine erste Kraft. Ich liege hier und habe nichts. Ich bin wie einer der normalen Menschen. Wieso bekommt auch Dean Kräfte? Ich war die, die sich am meisten dafür angestrengt hat! Ich hatte immer alles gegeben, und jetzt ist der Tag vorbei und nichts ist geschehen. Warum habe ich so etwas verdient?

lHumanl

Beta-Leserin: Muffin-Chaan

Natürlich unnatürlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt