Der Geschmack von Leere

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Wir saßen draußen vor der Disse, Mona und ich. Ich rauchte und sie trank für mich mit, ich versteckte mich, sie winkte, ich blieb stumm, sie sang und stank, stank, stank.

„Dein Kopf ist voller als ich", lachte sie und ließ sich neben mich fallen.

„Wenn ich nicht ich wäre und du nicht du, dann würden Nicht-Ich und Nicht-Du das garantiert nicht verstehen", seufzte ich.

Sie sah mich an mit diesem Blick, den ich nur von dem Kaninchen kannte, welches ich mit acht Jahren unter Abführmittel gesetzt hatte, und zog eine Augenbraue hoch: „Aleksander Petrowitz, 16, hat vergessen seine Glückspillen zu nehmen und fängt wieder an, alles zu überdenken."

Mit einer schnellen Bewegung strich ich die Hand meiner besten Freundin von meiner Schulter und stand auf: „Wenn du besoffen bist, benimmst du dich wie ein kleines Kind. Du weißt, ich mag Kinder nicht."

Sie lachte und legte sich quer über den Bürgersteig. Vorsichtig, mit der ewigen Furcht vor der nie endenden Kotzfontäne, einem seltenen Phänomen, beugte ich mich über sie: „Entweder du benimmst dich und ich bringe dich nach Hause oder ich lasse dich hier liegen. Deine Entscheidung."

Ich wusste, ich musste sie so oder so nach Hause bringen, spätestens morgen früh, wenn ich auf der Suche nach ihren Feuerroten Haaren über etwas stolpern würde, was auf den ersten Blick sehr nach einem riesigen Laubhaufen aussähe, sich aber später doch als mit Erbrochenem bedeckte Mona entpuppen würde. Sturzbetrunken fiel mir das 15 Zentimeter größere Mädchen entgegen. Ich nahm ihre Hand und zog sie mit mir, weg von dem Club, weg von all den schwitzenden Menschen und dem Alkohol, von dem womöglich auch ich etwas zu viel getrunken hatte. Sie stolperte in ihren kniehohen braunen Stiefeln mit dem dünnen Absatz hinter mir her. Unter einer der zahlreichen Laternen blieb ich kurz darauf stehen, als mir langsam kalt wurde, blickte auf die Uhrzeit auf meinem Handy und zischte: „Ich habe keinen Schimmer, wo wir sind."

Hysterisch stampfte Mona in einer Pfütze herum und trat das Wasser in alle Richtungen, womit sie meine Hose mit dreckiger, brauner Asphaltspucke bedeckte: „Wir sind verloren!"

An uns fuhr langsam ein silberner BMW vorbei, bremste zehn Meter entfernt abrupt und raste im Rückwärtsgang wieder in unsere Richtung. Bevor ich etwas realisieren konnte, schrie die Rothaarige bereits: „Nicht der schon wieder!"

Als das Beifahrerfenster sich öffnete und der Fahrer mich ansah, kam wie von allein über meine Lippen ein leises „Nicht der schon wieder...".

Der Braunhaarige sah uns kurz mit zusammengezogenen Augenbrauen an und rief:„Rein mit euch."

Der Nieselregen wurde stärker und da wir ohne ihn wohl noch Stunden umherirren würden, drängte ich ohne groß zu überlegen Mona, die gleich munter zu reden begann, auf den Rücksitz und setzte mich selbst nach vorne. Lieber säße ich kurz neben meinem größten Albtraum anstatt mir von einer Jugendlichen die bereits durchnässte Kleidung vollreihern zu lassen. Zu meinen Füßen lagen zahlreiche Bücher, eine dunkelblaue Mappe und eine leere Weinflasche.

„Na Kristof, wohin hat dich dein Weg geleitet? Lange nicht gesehen", lallte Mona.

Stur blickte er auf die Straße und rechtfertigte sich scheinbar: „Ich habe es hier nicht mehr ausgehalten."

„Und lass mich raten", grölte sie, „du hast Aleks kein bisschen vermisst."

Ich schüttelte kaum merkbar den Kopf. Die Röte stieg mir langsam aber sicher ins Gesicht und ließ sich nicht aufhalten. Meine Augen wurden feucht und ich fühlte mich wie nach dem ersten Sommergewitter, das die sonnige Scheinwelt erschüttert. Doch im leicht grünlichen Schein des Armaturenbretts konnte man nur die Umrisse des anderen wahrnehmen und so bemerkte keiner meine bebenden Lippen.

Doch er lachte nur und seine Knöchel traten leicht hervor, als er der Lenkrad fester umfasste: „Dass du immer noch darauf herumreitest."

Ich blieb stumm, meine Stimme zitterte zu sehr. Er wusste nicht, was er mir angetan hatte. Die ersten bunten Häuser der Hauptstraße unseres Dorfes zogen an uns vorbei. Als das Auto anhielt, wusste ich, dass die Betrunkene mich nun allein lassen musste. Ihr Kopf tauchte noch kurz zwischen den beiden Vordersitzen auf, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben, dann torkelte sie nach draußen in den strömenden Regen, ihre Handtasche als Schutz vor dem Unwetter über ihrem Kopf haltend. Ich legte meine Hand vorsichtshalber an den Türgriff: „I-ich glaube, ich steige auch hier aus."

Er griff nach meinem Unterarm und zog mich zurück in den Sitz.

„Du tust mir weh...", würgte ich hervor.

Ruckartig zog er seine Hand zurück und murmelte: „Ich fahre dich nach Hause. Sonst läufst du noch eine Ewigkeit in der Dunkelheit umher. Du stinkst nach Alk und es ist gefährlich allein draußen. Wenn dir was passiert, ist es meine Schuld."

Mein Blickfeld wurde immer verschwommener. Waren es Tränen oder die Regentropfen, die laut auf die Fensterscheiben prasselten? Kristof drehte hastig das Radio lauter. Das tat er immer, um die Stille zu übertönen. What is love? Baby, don't hurt me. Don't hurt me no more. Der Text fraß sich in meinen Kopf. Warum können Menschen nicht einfach sagen, was sie denken? Ich krallte mich mit meinen Fingern in meine Oberschenkel und schrie: „ Verdammte Scheiße, Kris, was soll das?! Was machst du hier? Du hast nichts mehr in meinem Leben verloren!"

Er hielt an und würdigte mich keines Blicks. Es schien, als würde er sich schämen. Vorsichtig griff er nach meiner Hand und strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken, so wie er es immer getan hatte, um mich zu beruhigen: „Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe. Ich wollte dir eigentlich nie wieder unter die Augen treten, doch dann habe ich Mona vor ein paar Wochen in der Stadt gesehen und sie hat mir vorgeschwärmt, wie toll es dir geht."

„Und deshalb kommst du wieder und zerstörst mir alles?"

„Nein, so ist es nicht. Ich habe bemerkt, dass ich dich verletzt habe. Du hast mich geliebt und ich habe mit dir gespielt. Mir ist aufgefallen, dass ich doch mehr für dich fühle als ich dachte. Lass uns noch einmal darüber reden, bitte."

Ich riss mich los und starrte ihn mit großen glasigen Augen an: „Ich fand es okay, dass du mich versetzt hast. Jedes einzelne Mal. Ich fand es okay, meinen Geburtstag alleine mit Mona zu feiern, weil du ein Date hattest. Ich fand es okay, Tag und Nacht auf eine Antwort zu warten, weil ich im Gegensatz zu dir immer noch keine sozialen Kontakte habe. Ich fand es okay, auf deinen Hund aufzupassen, während du mit Freunden im Urlaub warst. Ich fand es okay, meine ganze Zeit für dich zu opfern, dass du alles für mich warst und ich nichts für dich, dass du jeden geliebt hast außer mich. Doch mittlerweile weiß ich, dass ich zu viel investiert habe. Denn du bedeutest nichts in diesem Universum. Und doch wünsche ich mir, dass du leidest wie ich leide, wenn ich in deine Augen sehe und an den Platz in meinem Gehirn gelange, den früher dein Name ausgefüllt hat. Ich weiß, wie Leere schmeckt."

Ich trat in den strömenden Regen und ließ ihn mit offen stehendem Mund zurück. In meinen Hosentaschen wühlte ich aufgebracht nach meinem Hausschlüssel und dicke Tropfen fielen mir von den Fichten auf den Kopf. Total durchnässt setzte ich mich in die Küche und ließ die Stirn auf den kalten Esstisch sinken. Die Katze strich mir um die Beine und miaute, als würde sie fragen wollen, was für ein Versager ich bin.

What is love? Das auf jeden Fall nicht.

Everything is fineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt