Diese Nacht war eine der Sommernächte, die man nie vergisst, doch hofft in den Tiefen des Gehirns zu verlieren. Doch grausame Dinge verschwinden nie, so sehr man versucht sie zu vergessen.
Mein Vater fuhr uns am frühen Abend in die Stadt zum Jahrmarkt. Mona hatte ich den Beifahrersitz überlassen, damit sie sich in Ruhe mit ihm über mich lustig machen konnte. Er nannte sie „meine Süße" und sie nannte ihn nicht ganz legitim Herr Petrowitz, sondern Henry. Als die ganze Süße-Henry-Sache anfing, hatte ich kurzzeitig wirklich Angst, sie würden auf skurrile Art und Weise etwas miteinander anfangen, aber irgendwie lief es auf eine platonische und gleichzeitig ironische Beziehung hinaus und ich denke, genau das brauchte sie, um über mich hinwegzukommen. Unsere Freundschaft war komisch. Nicht etwa „Ich stehe auf Clowns"-komisch, sondern „Ich besitze 19 Frettchen und ernähre mich von mit Schimmel überzogenem Pudding, den ich aus den Mülltonnen der Nachbarn fische"-komisch.
Ich war 10, als wir umzogen sind und ich in die 5. Klasse kam. Ich redete mit niemandem und distanzierte mich von allem. „Schmerz kann man ausweichen" war damals meine Devise, doch in der neuen Schule wurde mir schnell bewusst, dass selbst Schweigen eine Freikarte für Prügel war. Ich war nach der Schule oft in der Bibliothek. Ich wusste damals wie heute nicht wie, aber mein Vater fand nach genau zwei Monaten und vier Tagen heraus, dass ich in der Zeit, in der ich Bukowski las und zeichnete, nicht mit Freunden „abhing" und machte sich wahnsinnige Sorgen, ich würde niemals welche finden. Er gab mir sogar Geld, damit ich was mit anderen unternehmen konnte, doch stattdessen kaufte ich mir ein Tamagotchi (was sinnlos war, denn unter meiner Pflege überlebte nach wie vor nicht einmal ein Kaktus). Eines Nachmittags, ich hatte gerade eine Fliege mit einem Bleistift vom Tisch gejagt, setzte sich ein schlaksiger, rothaariger Junge mir gegenüber auf einen der unbequemen Stühle und bot mir eine Schokomilch an. Wir waren gleichermaßen Außenseiter, also wurden wir mit der Zeit beste Freunde. Zwei Jahre später, ich in der 7. Klasse und Mona in der 9., gelangten wir an den schwierigsten Punkt unserer Freundschaft. Sie liebte mich. Ich weiß bis heute nicht, was schlimmer ist: jemanden zu lieben, der einen nicht zurückliebt oder geliebt zu werden und die Gefühle nicht erwidern zu können. Doch sie nahm es mir nicht übel. Sie nahm niemandem je etwas übel und das obwohl ihr so viel Unrecht geschah. Sie sah immer nur das Positive in Menschen und war, nicht böse gemeint, wahnsinnig naiv. Mich zu lieben, jemanden, der die Bedeutung von Anziehung wohl nie komplett verstehen würde, war hoffnungslos. Als würde man zu jemandem ins Auto steigen, auf dessen Stirn in Großbuchstaben „MÖRDER" steht. Denn sozusagen war ich ein Mörder. Ab dem Tag, an dem sie nachts heulend vor meiner Haustür saß und ich, total perplex im Inneren des Hauses ihrem Schniefen lauschend, die Tür nicht öffnete, verlor sie nie wieder ein Wort über Liebe, stellte mir jemanden vor oder ging mit jemandem aus. Es schien, als würde sich ihre Welt um mich drehen, denn wir waren unzertrennlich. Selbst, als sie sich als trans outete, war ich immer an ihrer Seite. Als niemand mehr etwas von uns wissen wollte (nicht, dass man sich davor um uns gerissen hätte), wir nachts groß in pinker Schrift auf die Wand unserer Schule „Fuck gender roles!" sprayten und uns auf unserer Flucht lachend in die Augen sahen, waren wir zum ersten Mal vollkommen ehrlich zueinander.
„Pass auf meine Süße auf!", schrie mein Vater, als wir ausstiegen, doch ich rollte nur mit den Augen.
Ich mochte Jahrmärkte so überhaupt nicht, doch heute war es anders. Ich wusste, sobald ich nicht mehr nüchtern genug wäre, um den Krach und das Geschrei wahrzunehmen, wären die Lichter angenehm und die Menschen viel zu nebensächlich. Mona verschwand in einem Kiosk und kaufte Wein, da wir beide fast alles lieber mochten als das Bier, was es überall an den Ständen zu kaufen gab.
„Mona, ich werde jetzt Entchen angeln."
Sie seufzte: „Bist du dafür nicht etwas zu alt?"
„Das ist das einzige was ich kann!"
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Everything is fine
Teen FictionDu denkst, alles ist okay. Du denkst, alles ist okay und plötzlich stehst du um drei Uhr früh inmitten eines unbeschreiblichen Lichtgewitters und rauchst acht Zigaretten am Stück. Du denkst, alles ist okay und plötzlich verlässt du dein Zimmer nur n...