chapter 1

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Ich drehte den Apfel in meinen blassen, dünnen Fingern hin und her. Er hatte um die 70 Kalorien. Zu viel, viel zu viel. Ich wollte doch so unbedingt fasten. Ich könnte später Sport machen. Verräterin. Schwächling. Nicht einmal, kannst du etwas richtig tun. Etwas durchziehen. Der Hunger frass mich von innen auf, nagte an mir, überall konnte ich seine Spuren sehen. Ich schloss meine Finger um mein Handgelenk. es war knochig und kalt, so kalt. Nichts essen. Du wirst schwach. Was, wenn ich den Apfel einfach rauskotzen würde? Kotzen ist für Schwache. Ich umfasste den Apfel so stark ich konnte, meine Knöchel traten hervor, weiß, so weiß. Meine Haut schien dünn und durchsictig, man könnte Angst haben, dass sie reißt. Ich nahm einen kleinen vorsichtigen Biss vom Apfel, nicht viel. Er schmeckte so süß, so gut, die erste feste Mahlzeit seit fast 3 Tagen. ZU VIEL, ZU VIEL, ZU VIEL! FETTES MISTSTÜCK. Wütend auf mich selbst schleuderte ich den Apfel weg. Weg, weit weg, so weit ich konnte mit dem bisschen Kraft, die mir noch geblieben war. Weg mit all den Kalorien. dem ganzen Zucker. Ich wollte aufstehen und Sport machen, doch ich fühlte mich so kalt und schwach, ich fühlte mich so klein und durchsichtig und ich hatte kaum Energie aufzustehen. Ich wollte schließlich nicht in Ohnmacht fallen und wieder im Krankenhaus landen, zwangsernährt, bis mein Gewicht einigermaßen stabil war. Stattdessen ließ ich mich sinken und ich fiel und fiel und der Boden war hart und ich spürte all meine Knochen, doch ich ließ mich fallen, weiter ins Dunkle, das so viel besser war als der Schmerz, den ich erleiden musste, wenn ich wach war. Und ich fiel, während meine Gedanken langsam verblassten und immer mehr an Bedeutung verloren, bis ich schließlich gar nicht mehr dachte.

Dann wachte ich auf. Weiße Wände um mich herum, steriler Geruch, hellblaue Bettdecke, Infusion am Arm. Im Krankenhaus. Und wieder versagt du, du fette Schlampe. Am liebsten wollte ich die Infusion herausreißen, doch dann würde sofort eine Schwester erscheinen und ich hatte definitiv keine Lust zu diskutieren. Also schloss ich meine Augen wieder und achtete nur auf das pulsierende, kalte Licht, dass ich dennoch schwach sehen konnte. Die Tür wurde geöffnet und ich versuchte so ruhig und gleichmäßig wie möglich zu atmen, damit ich nicht für wach gehalten wurde. Schwere Schritte näherten sich meinem Bett und blieben dann unmittelbar vor mir stehen. Ich konnte die unbekannte Person atmen hören. Piepsen. Papierrascheln. Kullikratzen. Murmeln. "Blutdruck imernoch niedrig. Zu niedrig, viel zu niedrig. Körper nimmt Nährstoffe nicht mehr richtig auf" Weiteres Kullikratzen. "Zwangsernährung. Psychologischer Befund unbedingt nötig" Fluchen. "Wiese wurde das nicht schon bei der letzten Einlieferung  angeordnet? Scheiße. Scheiße jetzt hab ich den Mist" Bitte nicht. Ich wollte nicht zwangsernährt werden und ich wollte auch keinen psychologischen Befund. Ich wollte doch nur endlich schön sein.

Ich hörte, wie sich die Schritte wieder entfernten. Endlich. Dann blieben sie abrupt stehen. Kurze Stille. Etwas wurde auf dem Fußboden herumgeschoben, ein dumpfes "Plumps" war zu hören und schließlich eine Seufzer. Scheiße. Der Arzt war nicht rausgegangen. "Mädchen, ich weiß, dass du wach bist." Ach verfickte Kacke, musste das sein? Ich öffnete meine Augen, ganz langsam und vorsichtig, blinzelte ein paar Mal und blieb einfach liegen. Ganz still, so als würde mich diese Unbeweglichkeit noch ein kleines Stückchen mehr transparent machen. Der Arzt schwieg. Ich schwieg zurück. Eigentlich wollte ich gerne reden, fragen was nun passiert, wie es weitergeht.  Auch wenn ich Angst hatte vor den Antworten. Doch ich konnte nicht, es war als hätte ich meinen Wortschatz weggesperrt und würde nun in einem leeren Wortraum stehen, so ganz ohne Wörter. Und wer könnte sie freilassen, wenn ich mich doch selbst doch Tag für Tag vor all diesen Wörtern versteckte und lieber das Schweigen in meinen leeren Wortraum stellte. Also lag ich einfach da und der Arzt saß da und wir beide schwiegen und schwiegen und ich hatte komplett das Gefühl für Zeit und  Gefühl für mich und meinen Körper verloren. Es war nur noch Schmerz und Kälte und ich konnte nicht mehr unterscheiden wo genau dieser Schmerz saß und ich konnte nichts tun um mich zu wärmen, denn ich konnte schon nicht mehr unterscheiden ob die Kälte von innen oder von außen kam. Doch irgendwann wurde mir das ewige Schweigen und still herumliegen zu viel. Ich räusperte mich und versuchte mich aufzusetzen, der Arzt sprang jedoch schnell auf und trat an mein Bett. "Bleib liegen, Kindchen. Bleib besser einfach liegen."  Dann räusperte auch er sich. "Dir ist klar, dass du in eine Klink musst?" Er redete mit Eindruck und für ihn stand anscheinend fest, wie meinen Zukunft aussehen würde. Panisch schüttelte ich den Kopf.  Alles außer Klinik. Er seufzte erneut. Wie oft dieser Mann seufzte.  "Wann kommen meine Eltern?" meine Stimme war brüchig und ich räusperte mich mehrmals. "Sie waren vorher da, als du geschlafen hast. Sie wollten aber bald wieder kommen." Ich wollte gerade einfach nur von meiner Mutter umarmt fühlen, geborgen in ihren Armen, ich wollte mich wohlfühlen. Ich wollte meine Eltern, auch wenn ich viel zu alt war um mich noch bei ihnen zu verstecken, auch wenn ich wusste, dass selbst sie mir meinen Platz in der Welt nicht zurückgeben konnten. "Meine Eltern würden mich nie in eine Klinik schicken. Sie... sie kümmern sich gut um mich." Der Arzt musterte mich eingehend. "Das ist leider alles schon abgesprochen.Auch deine Eltern sind für einen Klinikaufrenthalt. Vor allem, nach dringendem ärztlichen Rat. Du bist so stark untergewichtig... Wir haben keine anderen Optionen." Dann räusperte er sich noch einmal und sagte nun fast emotionslos "Später kommt noch eine Schwester und schaut nach dem Rechten. Wennn alles gut läuft, wirst du in einigen Tagen entlassen."
Dann verließ er mit großen, schweren Schritten den Raum und ließ mich alleine. Ich schloss die Augen und versuchte nicht mehr zu denken. Die Kälte, die mich von innen zerstach bemerkte ich schon gar nicht mehr. Ich war sie schon zu sehr gewohnt.


AN: das erste Kapitel mal etwas kürzer, um zu sehen wie es ankommt. ENtschuldigung übrigens wegen meiner schrecklichen Kommasetzung, ich arbeite daran.

Ich möchte noch einmal betonen, dass ich Essstörungen in keinster Weise unterstütze. Außerdem habe ich selbst noch nie an Anorexie gelitten, daher verzeiht mir, falls ich irgendetwas falsch beschreibe/falsche Fakten nenne etc.

Ansonsten: Ich freue mich über jedes Vote & Kommentar :)


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