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Das nicht ganz so alltägliche Leben

„Omilein, ich bin hier fertig. Kann ich jetzt endlich runter in die Stadt?", fragte ich völlig aus der Puste, während die Schweißperlen meine Stirn herunterrannten und schließlich durch meine Hand weggewischt wurden. Da die alte Frau in meine Richtung schaute, wedelte ich mit den orangefarbenen Möhren in der Luft, die ich zuvor aus der Erde gezogen hatte.

Es ist Erntezeit, weshalb ich fast den ganzen Tag hier auf dem Feld verbrachte. Unter der prallen Mittagssonne ist die Arbeit jedoch alles andere als leicht.

„Ja, ja mein Junge. Geh nur! Für heute ist es wohl genug. Wenn du zurückkommst, gibt es mal wieder ordentlich was zu essen. Na, wie klingt das?", erwiderte die alte Frau und warf mir einen erwartungsvollen Blick zu, der mich wissen ließ, dass sie eine positive Reaktion von mir erwartete. Tatsächlich haute mich das nicht besonders vom Hocker, denn eigentlich gab es jeden Tag ausgesprochen gutes Essen. Scheinbar war der alten Dame nicht bewusst, wie gut sie kochen konnte.

„Klingt gut, Omilein. Wenn ich schonmal in der Stadt bin, bringe ich dir auch gleich die Medizin mit.", antwortete ich wenig beeindruckt, obwohl ich mich sehr anstrengte, die Frau vor mir nicht zu enttäuschen. Ich warf ihr noch einen mahnenden Blick zu, da ich wusste, dass sie von der Medizin gegen ihre Schmerzen nicht viel hielt. Immer wieder hieß es, es wäre alles halb so schlimm. Doch auch wenn sie versuchte, es vor mir zu verstecken, bekam ich mit, wie sie hinter meinem Rücken das Gesicht vor Schmerz verzog. Daher machte ich mir ehrlich gesagt immer mehr Sorgen um ihre Gesundheit. Ein Leben ohne sie wollte ich mir gar nicht ausmalen.

„Ist gut, nun geh schon bevor es noch dunkel wird.", meinte die alte Frau laut seufzend und begab sich unter Schmerzen, während sie ihren Rücken mit der zittrigen Hand stützte, zurück in die kleine Holzhütte direkt hinter dem kleinen Feld, wo wir beide zuvor die Herbsternte geerntet hatten. Zum Abschied winkte sie mir noch zu, indem sie langsam ihre andere zittrige Hand hob und leicht schüttelte, und verschwand dann im Inneren der Holzhütte mit dem goldgelben Strohdach.

Erleichtert schlenderte ich auf den Eingang zu und legte die geernteten Möhren vorsichtig vor der Tür ab und klopfte dann hektisch die Erde von meiner Kleidung, wobei mich eine Staubwolke umgab und beinahe zum Niesen brachte.

Schon von klein an lebe ich bei Frau Shadow, der alten Dame, die mich aufgenommen hat. Denn ich hatte keine Eltern, oder besser gesagt habe ich sie nie in meinem Leben gesehen. Ich wusste weder wie sie hießen, noch wie sie aussahen. Immer wenn ich Frau Shadow auf dieses Thema ansprach, sah sie mich nur ernst an und meinte: „Der richtige Zeitpunkt für dieses Gespräch ist noch nicht gekommen." Natürlich stellte mich dies nicht zufrieden, denn das war das größte Geheimnis über mein Leben. Und um ehrlich zu sein war ich der Überzeugung, dass Frau Shadow nicht das Recht hatte, mir das zu verheimlichen, denn schließlich ging es um mein Leben. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass dieser richtige Zeitpunkt niemals eintreffen würde. Sie wollte überhaupt nicht darüber sprechen. Doch egal wie sehr ich sie darum anflehte, sie wollte es mir einfach nicht erklären.

In Gedanken versunken spazierte ich entspannt an den Nachbarsfeldern entlang, auf denen dutzende Arbeiter die verschiedensten Gemüsesorten ernteten. Die Sonne hing bereits am Horizont und auf manchen Feldern halfen Frauen und Kinder bei der Arbeit. Gerade lief ich an einem der Felder entlang, auf dem Maiskolben Glied an Glied in die Höhe schossen. Ein Kind warf mir einen flüchtigen Blick zwischen den Stängeln hindurch zu, das Gesicht bereits von der Sonne verbrannt. Ich meine, Neid in seinem Blick gesehen zu haben. Neid, dass er nicht an meiner Stelle war und immer noch arbeiten musste.

Ich erreichte das Ende der Nachbarschaft und erblickte ein Meer aus Grün. Denn ich lief den kleinen Hügel runter in den dunklen Wald, aus dem Vogelgezwitscher ertönte. Der Eingang des Waldes war komplett verdunkelt und es war schwer etwas zu erkennen. Schließlich handelte es sich um einen äußerst dichten Wald mit vielen Fichten, die ich von allen Bäumen am liebsten hatte. Als ich den Eingang erreichte, spürte ich sofort wie die Luft um mich herum kühler wurde. Der Geruch von feuchter Erde und Tannennadeln stieg in meine Nase. Eine starke Windbrise erwischte mich und hinterließ ein leises Flöten. Ohne weiter zu zögern tauchte ich in die Dunkelheit ein und nahm einen tiefen Atemzug von der etwas feuchten Waldluft. Sofort versank ich in eine unglaublich traumhafte Stimmung, denn den Wald hatte ich von allen Orten hier in Nimon am liebsten. Es war ruhig hier, obwohl von mehreren Seiten Zwitschern und Rascheln zu hören war. Es war in einer anderen Art und Weise ruhig hier, denn im Wald gab es keine Menschen. Hier war niemand, der mich runtermachen konnte, der etwas von mir verlangte oder der mich als wertlos sah. Tief im Inneren hatte ich immer das Gefühl, dass ich hier einfach nicht erwünscht war, was zum Teil auch daran lag, dass meine Eltern mich scheinbar einfach nicht in ihrem Leben haben wollten. Ich fühlte mich fehl am Platz, denn ich wusste nicht, wohin mit mir, wenn ich an die Zukunft dachte.

Every Light Goes OutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt