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Der schwarze Anzug und die Lackschuhe, die ich von einem Drogenhändler in Doncaster geschenkt bekommen hatte, ließen mich seriös aussehen. Doch der billige Cowboyhut aus Leicester, unter dem ich meine langen blauen Haare versteckte, zerstörte dieses Bild.
„Ihr Name?", rief die Frau an der Rezeption durch den Lärm der Musik.
„Harold Dempsey." Ich beobachtete sie, wie sie meinen Namen in ihren Computer eintippte. Die Frau hatte lange blonde Haare, die sie zu einem französischen Zopf geflochten hatte, und ihre blauen Augen erinnerten mich an meine Mutter.
„Zimmer 503, fünfter Stock." Sie hielt mir einen Schlüssel hin und lächelte leicht.
Ich nahm ihn und drehte mich zum Gehen um. Freundlichkeit brachte mir sowieso nichts, da ich in spätestens drei Tagen durch das Fenster in der Toilette der Lobby abgehauen sein werde. Doch diesmal war irgendwas anders. Ich schaute nochmal kurz zu der Frau.
„Danke", murmelte ich und glaubte kaum, dass sie mich in dem Lärm verstanden hatte, doch sie nickte. Sie hatte ja keine Ahnung, wem sie gerade ein Zimmer anvertraute.
Erschöpft drängelte ich mich durch die Menschenmasse, die klatschend und jubelnd zu irgendeinem Country-Sänger, der mit seiner Band auf einer kleinen Bühne spielte, tanzte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war ich endlich im fünften Stock vor Zimmer 503 angekommen. Wenn ich bis morgen keinen Aufzug finden würde, würde ich noch durchdrehen. Ich schloss die schwere Holztür auf und betrat das Zimmer. Mein Blick fiel sofort aus dem Fenster. Hinter einem hohen Zaun erstreckte sich eine wunderschöne Aussicht über Fairway, meiner alten Heimat.
Moment. Ein Zaun? Mit großen Schritten eilte ich zur Fensterbank und stützte mich dort ab. Tatsächlich. Ich konnte das Ende des Zauns nicht sehen, weshalb ich davon ausging, dass er das ganze Hotel umschloss.
Hektisch sah ich mich nach einem Telefon um, das ich auf dem Nachttisch neben dem altmodischen Bett fand. Rasch tippte ich eine Nummer ein und hielt mir den Hörer ans Ohr.
Nach dem sechsten Tuten raschelte es. „Ja?"
„Larry! Da ist ein Zaun!"
„Wo bist denn du?", fragte die Person am Ende der Leitung.
„In Fairway, in einem Hotel neben dem alten Saloon."
„Ich komm rüber, wir treffen uns um sieben bei Joe."
„Okay. Bis später." Erleichtert legte ich den Hörer weg.
Ich hatte Larry in Redover kennengelernt. Oder besser gesagt wieder getroffen. Er hatte mich in einer Bar angesprochen und es stellte sich heraus, dass wir früher Freunde gewesen waren und uns dann aus den Augen verloren hatten. Wir waren beide in Fairway aufgewachsen. Ich konnte ihm vertrauen, das wusste ich.
Da ich lange unterwegs gewesen war und ich noch ein paar Stunden Zeit hatte, bis Larry und ich uns trafen, beschloss ich, mich noch ein wenig hinzulegen. Joe's Bar war nicht weit von hier entfernt, sodass ich zu Fuß hin laufen konnte. Meinen Koffer auszupacken lohnte sich nicht. Vor allem, weil fast nichts drin war.
Mit dem Gedanken, ob mein Leben wirklich so weiter gehen konnte, schlief ich bald ein.
„Larry Faraday!", rief ich schon von weitem, als ich Joe's Bar betrat und mit ausgebreiteten Armen auf Larry zu lief.
„Harold Dempsey!" Wir umarmten uns kurz und setzten uns dann an den Tresen, als ein nur allzu bekanntes Gesicht näher kam.
„Harry und Larry! Was für eine Überraschung!"
„Hey Joe! Alles klar?"
„Natürlich! Lange nicht mehr gesehen! Das Übliche?"
„Das Übliche", antwortete ich grinsend und Joe schenkte uns zwei Sherry Woods ein.
„Danke." Wir nahmen unser Getränk und stoßen an.
„Erzählt mal! Was habt ihr so getrieben, die letzten Jahre?", fragte er, während er ein paar Biergläser mit einem alten Handtuch trocknete.
„Ich bin vor kurzem nach Redover gezogen, dort habe ich mir ein kleines Haus gekauft. Ich arbeite in Stanford auf einem Hof, dort bilde ich Cuttingpferde aus."
Cuttingpferde werden für die Arbeit mir Rindern genutzt und es beeindruckte mich, dass Larry solche Pferde ausbildete. Es war nicht leicht, die sensiblen Fluchttiere an Kühe zu gewöhnen.
„Und du Harry?", fragte Joe an mich gewandt.
Ich atmete tief durch. „Ich bin mit 16 sitzen geblieben und dann von zu Hause abgehauen. Erst war ich ein halbes Jahr in Bunbury, das liegt an der Ostküste. Als ich dann aber gemerkt habe, dass ich überall gesucht werde, beschloss ich, weiter zu reisen. Ich bin in den nächsten Zug gestiegen und auf der Toilette mitgefahren, weil ich nicht so viel Geld für ein Ticket ausgeben wollte. Ich hatte sowieso nicht viel. Irgendwann landete ich dann in Genwards. Drei Nächte schlief ich in einem hässlichen Hotel und bin dann durch das Fenster in der Toilette abgehauen. Dann bekam ich von einem Drogenhändler in Doncaster mit, der mir ein gutes Angebot machte. Doch ich lehnte ab und bekam trotzdem diese Schuhe." Ich zeigte nach unten. „Schon bald bin ich weitergereist, diesmal hatte ich ein Ziel vor Augen. Ich wollte nach Leicester, da es dort anscheinend sehr billige Hotels gab, doch das einzige billige, was ich dort fand, war dieser Hut." Ich zeigte auf meinen Kopf. „Also bin ich weiter, nach Redover. Dort traf ich Larry wieder. Und ja, jetzt bin ich hier. Die ersten zwei Jahre habe ich noch mitgezählt, aber irgendwann habe ich das auch gelassen. Ich müsste jetzt um die 20 sein, ich weiß es nicht genau."
Joe riss erstaunt die Augen auf, während Larry stolz nickte.
„Das muss hart gewesen sein." Joe zeigte auf einen Kalender, der hinter ihm an der Wand hing. „Wir haben den 17.04.1978."
„Dann bin ich jetzt 21." Nachdenklich betrachtete ich den Kalender. Seit fünf Jahren war ich jetzt schon unterwegs. Seit fünf Jahren hatte ich meine Familie nicht mehr gesehen. Jetzt erst wurde mir bewusst, wie sehr ich meine Mutter und meine Schwester eigentlich vermisste.
An meinen Vater konnte ich mich sowieso nicht erinnern, er hatte uns verlassen, als ich zwei Jahre alt gewesen war.
„Zu deinem Problem", riss Larry mich aus meinen Gedanke. „Da ist ein Zaun?"
„Ja. Hinter dem Hotel ist ein Zaun."
„Und was ist daran jetzt so schlimm?"
„Dass ich nicht mitten in der Nacht mit Koffer durch die Lobby nach draußen spazieren kann, ohne zu bezahlen."
„Hm", machte Larry nachdenklich. „Dann brauchst du einen Plan B."

Harold DempseyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt