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„Mister Dempsey?"
Ich drehte mich um und entdeckte die hübsche Frau von der Rezeption. „Ja?"
„Sind sie oft bei Joe?" Sie kam auf mich zu.
„Früher. Und Sie?"
„Jeden Abend. Mein Bruder hat sich hier früher immer mit einem Freund getroffen." Mittlerweile stand sie direkt vor mir und betrachtete mich ganz genau. Sie war etwas kleiner wie ich und hätte ich meine Haare nicht gefärbt, wären sie genauso blond wie ihre.
„Ihr Bruder?", fragte ich beiläufig.
„Ja, mein Bruder."
Einen Moment lang herrschte Stille.
„Wollen Sie mich zum Essen einladen? Es ist noch nicht sehr spät."
Ich riss erstaunt die Augen auf. Was erlaubte die sich eigentlich? Obwohl ich gestehen musste, dass mir unter Leuten sein mal wieder ganz gut tat.
„Also gut. Kennen Sie ein gutes Restaurant in der Nähe?"
„Kennen Sie denn keins?"
Ich kannte eine Menge. „Das Montenoir in der Riverstreet soll ganz gut sein."
„Da war mein Bruder früher auch oft."
Was hatte die denn immer mit ihrem blöden Bruder?
„Ich bin übrigens Eleanor." Lächelnd hielt sie mir die Hand hin.
„Harry." Misstrauisch nahm ich ihre Hand.
„Gehen wir?"
„Gehen wir."
Eleanor war eigentlich ganz nett und wir verstanden uns gut. Mit ihrem Bruder ließ sie mich auch endlich in Ruhe.
Den restlichen Abend verbrachten wir noch in der Lobby auf einem der altmodischen Sofas, die dem Hotel ein westernähnliches Flair verliehen.
„Eleanor?" Ein älterer Herr mit langen grauen Haaren kam auf uns zu. „Ich mach Feierabend!"
„Ist gut. Bis morgen!"
Der Mann verschwand aus dem Haupteingang.
„Das ist Richard, unser Sänger. Er tritt hier mit seiner Band fast jeden Abend auf. Und er sucht einen Nachfolger." Eleanor sah mich an.
„Ich?" Ich musste lachen.
„Warum nicht? Du kannst bestimmt spielen", meinte sie grinsend.
Sie hatte Recht. Und ein wenig Geld verdienen konnte nie schaden.
„Pass auf, morgen Abend kommt Richard wieder. Komm doch einfach runter, wenn er wieder spielt. Er hat danach bestimmt noch ein bisschen Zeit für dich."
Am nächsten Abend saß ich tatsächlich in der Lobby, mit einer Zeitung in der Hand, die ich mir ins Gesicht hielt und trotzdem noch drüber weg schauen konnte. Da war dieses Ehepaar, das gestern schon hier saß. Der Mann erinnerte mich mit seiner Baskenmütze ein wenig an Picasso, obwohl ich nicht wusste, wie Picasso aussah. Seine Frau dagegen hatte lange graue Haare, die sie zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt hatte.
Auf einem Sofa weiter hinten saß eine vielleicht 40 Jahre alte Frau, mit sehr langen blonden Haaren und denselben blauen Augen wie Eleanor.
In diesem Moment kam Eleanor aus einer Tür hinter der Rezeption und lief auf die Frau zu. Ich hob mir schnell die Zeitung weiter ins Gesicht.
„Mum! Schön, dass du hier bist!", rief sie und begrüßte ihre Mutter mit einer Umarmung. Diese Frau war tatsächlich ihre Mutter?
„Eleanor, mein Schatz! Wie geht es dir?"
Mehr bekam ich von dem Gespräch nicht mit. Ich bemerkte jedoch, wie die beiden Frauen mir öfters Blicke zuwarfen.
Nach einer Weile tippte mir jemand auf die Schulter und setzte sich neben mich. „Hübsche Frau, die Eleanor, nicht wahr?"
Ich nickte verwirrt und legte die Zeitung weg.
„Sie meinte, du wirst mein Nachfolger." Richard legte seine Füße auf den
kleinen Tisch. „Ich werde immer älter und seit meinem Herzinfarkt vor zwei Monaten bin ich auch nicht mehr der Fitteste. Die Auftritte hier haben mir immer viel Spaß gemacht und das werden sie dir auch, das weiß ich. Und außerdem", er lehnte sich zu mir rüber", verdienst du nicht schlecht."
Ich sah Richard lange an. Er wusste ja gar nicht, vor welcher Entscheidung ich stand. Hier bleiben und hoffen, dass meine Familie mich nicht fand oder einfach wieder weiterreisen und der Gefahrenzone entkommen.

Drei Stunden später war mein erster Auftritt auch schon wieder vorbei.
„Gut gemacht, Mann! Ich glaube, du hast den Job", rief Richard fröhlich und klopfte mir auf die Schulter.
„Danke, hat echt Spaß gemacht!" Ich saß gerade mit Eleanor an der leeren Bar.
„Ich würde mich freuen, wenn du hier bleiben würdest", meinte sie und grinste. Doch irgendwas war anders an diesem Grinsen.
Mit dem Geld, das ich hier verdiente, konnte ich das Hotel bezahlen. Aber was war mit meiner Familie? Vielleicht sollte ich die einfach vergessen. Ich hatte hier eine neue Familie. Aber das war gar nicht so einfach, wenn ich am anderen Ende der Stadt wohnte.

Harold DempseyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt