Prolog

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Prolog

18. Mai 2003

Aufgeregt wackelte der kleine Junge mit dem blonden strubbeligen Haar und der großen Brille auf der Stupsnase mit seinen Beinen. Abwartend ließ er seinen Blick durch den warmen Raum gleiten, ehe er an dem angespannten und runden Gesicht der Japanerin hängen blieb.

»Jonathan, setz dich ordentlich hin. Du weißt, dass dein Großvater es nicht gerne sieht, wenn du so wackelst. Trink deinen Tee«, ermahnte sie ihn und rührte in stetigen Kreisbewegungen mit dem kleinen Teelöffel in der Porzellantasse.

»Aber Großvater ist nicht hier. Schon seit Tagen ist er weg«, erwiderte Jonathan und man hörte, wie das letzte bisschen Englisch in seiner Aussprache mitschwang. Er umfasste mit seinen beiden Händen die Tasse und begann vorsichtig an dem heißen Gebräu zu schlürfen.

»Nicht schlürfen«, tadelte die Schneiderin ihn erneut.

»Schwesterchen, sei nicht so streng zu ihm, wie es sein alter Großvater ist«, meinte die jüngere Japanerin mit dem langen glatten Haar und schenkte dem Jungen ein Lächeln. »Er ist eigentlich noch viel zu jung für die Ausbildung, die ihn sein Herr unterzieht.«

»Bin ich nicht!«, protestierte Jonathan und verschüttete im Eifer beinahe seinen Tee auf die Fernsehzeitung, die auf dem Tisch vor ihm lag. »Ich werde eines Tages ein guter Zeitreisender sein und Großvater helfen!«

»Jonathan«, seufzte Akane und legte ihre Hand behutsam auf sein Knie. »Dein Großvater tut nicht nur Gutes. Aber du bist zu jung, um das verstehen zu können.«

»Bin ich nicht!«, wiederholte der Junge sich trotzig und die Asiatin seufzte. »Warum schaut ihr alle nur so besorgt drein? Andauernd machen wir nichts weiter als zu warten.«

»Wir warten auf die Rückkehr deines Großvaters, das weißt du doch«, meinte der Junge namens Ren neben ihm, welcher der Sohn der molligen Japanerin war.

Manchmal wollte Jonathan ihn gerne zu seinen Freunden zählen, doch sorgte sein Großvater aus einem ihm unbekannten Grund stets dafür, dass sie sich selten sahen. Und wenn sie es mal taten, dann war ihm Ren viel zu stürmisch und zu naiv. Sie hatten sich deshalb schon oft gestritten und waren in kleine Raufereien geraten. Doch manchmal kam es Jonathan vor, als sei Ren der einzige Junge neben ihm auf der gesamten Welt.

»Tch«, machte der kleine Jonathan und stellte die Tasse vor sich ab. »Besserwisser.«

»Du bist doch der Besserwisser hier!«, protestierte der Junge mit dem dunklem Pony im Gesicht. »Du verbesserst mich jedes Mal und tust so als wäre ich nicht da, wenn dein blöder Großvater dabei ist!«

»Ren!«, richtete die Schneiderin sich auf, doch es war bereits zu spät.

»Mein Großvater ist nicht blöd! Er beherrscht die Zeit, und du nicht!«, ging Jonathan ihn wütend an, wobei ihm fast die Brille von der Nase rutschte. Er wandte sich übermütig auf dem Sofa, auf welchem die beiden saßen, und versuchte mit seiner Hand den Jungen zu erhaschen. Doch sobald ein kurzes Krachen aus dem Flur ertönte, war für Jonathan Zwietracht sofort wieder vergessen, und er sprang auf und rannte zu der Quelle des Geräusches. »Großvater!«, rief er vor Begeisterung aus, ehe auch das letzte Fünkchen Freude aus seinem Gesicht wich. Eine blutrote Flüssigkeit tropfte von dem gewaltigen Schwert seines Erziehers und weckte in Jonathan das Gefühl von Furcht und Ekel.

»Rainer, was hast du getan?«, vernahm er den empörten Ausruf der Schneiderin hinter sich. Emi stellte sich schützend vor Ren, um ihm diesen Anblick zu ersparen.

»Nur das, was nötig war«, erwiderte dieser und überreichte seinem Enkel seelenruhig die Taschenuhr. Kleine Blutflecken machten sich in seinem kantigen Gesicht erkennbar. »Hier, Jonathan. Verstau die bitte wieder in der Schatulle.«

»Du hast ihn umgebracht«, hauchte Akane und wich vor Empörung von dem Mann zurück. Sie fasste mit ihrer Hand an ihren vor Schreck offen stehenden Mund. »Du hast ihn einfach beseitigt. Er hat eine Tochter und einen kleinen Sohn! Seine Frau ist ohne ihn verloren, das weißt du!«

Der Mann verzog seinen Mund und schaute der kleinen Asiatin eingehend in die Augen, während er ihr das vom Blut klebende Schwert in die Hand drückte. »Er hat sich gegen eine bessere Welt gestellt. Solch ein Ketzer hat nicht das Recht darauf, in der Zeit zu reisen«, knurrte er und schritt gekleidet in Wams und Kettenhemd mit schweren Schritten durch den Flur. »Und nun beeil dich, mein kleiner Jonathan. Wir haben einiges zu klären«, waren seine Worte, ehe er aus dem Haus verschwand.

Angewidert ließ die Schneiderin das Schwert fallen und stützte sich nach Luft schnappend an der Wand hinter ihr. »Er ist ein Monster«, keuchte sie. »Und wir sind bestimmt die Nächsten.«

»Das darf nicht sein«, trat Emi herbei und erfasste die Schultern ihrer Schwester. »Das dürfen wir nicht zulassen.«

»Aber wie?«

Verzweifelt schaute die Asiatin ihre Schwester an und wusste sich nicht mehr zu helfen. Jonathan hatte sie noch nie zuvor so zerbrechlich gesehen. Er selber verspürte zum ersten Mal so etwas wie Sorge und Angst. Es schnürte ihm die Lunge zu und ließ ihn erstarren.

Mit einem selbstsicheren Funkeln in den Augen drehte Emi sich zu ihm und hockte sich auf seine Höhe. »Er kann uns von hier weg bringen«, sagte sie, und wies mit ihren schmalen Fingern auf die glänzende Taschenuhr in Jonathans Händen. Dieser umklammerte das Gerät gleich umso fester, als hinge sein Leben davon ab. »Jonathan, hast du das verstanden? Du kannst die Uhr stellen und bringst uns einfach in eine andere Zeit. Ich weiß, dass du es kannst.«

»Ich glaube nicht, dass Großvater...«

»Jonathan«, unterbrach sie ihn sanft. »Du bist ein so guter Junge, der es zu viel bringen wird. Und du kannst genau jetzt damit beginnen, wenn du mir nur diesen einen kleinen Gefallen tust. Du weißt doch, wie man die Uhr stellt, oder?«

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte dieser nach einem Zögern. »Aber ich brauche ein Chronopeniculus. Ohne es habe ich gar nicht die Kraft, eine Zeitreise zu machen.«

»Dann werden wir eines finden«, setzt die Frau ein mitleidiges Lächeln auf.

»Ich habe eines hier«, schaltete sich Akane ein. Ihre schokoladenbraunen Augen wurden ganz glasig, als sie sich an etwas erinnerte: »Peter hat mir eines hier gelassen für den Fall, dass er... Oh Gott, Emi, er wusste es!«

Emi stand wie angewurzelt dort. Jeder Gedanke in ihrem Inneren überschlug sich vor Schreck. Sie hatten alles für möglich gehalten, aber damit hatten sie nicht gerechnet. »Wo ist es, Schwesterchen?«, fragte sie und Hoffnung schwang in ihrer Stimme.

Die kleine Asiatin drehte sich hastig um und suchte jede einzelne Schublade der Kommode ab, ehe sie eine goldene Brosche präsentierte. »Das ist es«, verkündete sie und trat zu Jonathan, welchem sie das Schmuckstück ansteckte. Seine Augen begannen zu glänzen, als er den Chronopeniculus an seinem Oberteil betrachtete. Nun war er ein richtiger Zeitreisender.

»Bringst du uns fort von hier? Wie wäre es mit dem Jahr 1955?«, schlug Emi erfüllt von Tatendrang und Furcht vor.

»Etwa jetzt?«, fragte die Schneiderin und ihre Schwester nickte ihr zu.

»Jetzt, oder es ist für immer zu spät.«

Jonathan warf Ren einen hilfesuchenden Blick zu, wenngleich er nicht ganz wusste, warum er das tat. Vielleicht hatte er gehofft, dass dieser ebenso wenig wusste, was nun am besten zu tun war. Doch der Asiate schaute so felsenfest entschlossen aus, wie Jonathan ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

Vorsichtig lockerte sich sein Griff und er starrte das mächtige Instrument vor sich an. »Ich muss euch also nur in das Jahr 1951 bringen?«, fragte er unsicher. Es wäre seine erste Zeitreise, die er ohne Großvater unternahm.

Die gesamte Familie nickte ihm zu. Er sah ihnen die Dringlichkeit an und bekam zunehmend das Gefühl, dass wenn er nun nicht handelte, er sich das vielleicht niemals verzeihen konnte.

»Also gut«, beschloss er schließlich und klappte das Chronometer auf. Leise tickte die magische Gerätschaft vor sich her und ihm schauten hunderte kleine Ziffern entgegen. »Ich werde euch in das Jahr 1951 bringen. Aber versprecht mir, dass ich euch besuchen kommen darf.«

Chroniken der Zeit (II) [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt