Kapitel 1

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»Wer nichts waget, der darf nichts hoffen.«

- Friedrich Schiller

22. Juli 1968

Jede Faser an meinem Oberschenkel schmerzte, als ich mit zusammengebissenen Zähnen die Treppenstufen des Hauses erklomm. Energischen Schrittes folgte mein Vater Peter Wingslow, welcher uns in einer Pension untergebracht hatte.

»Hast du Schmerzen?«, vernahm ich seine warme Stimme in meinem Rücken und erinnerte mich daran, dass ich mir eigentlich vorgenommen hatte, nicht an die Verletzung an meinem Schenkel zu denken, damit der Schmerz verdrängt wurde und er mit Glück verflog.

»Alles Schmerzt mir«, brachte ich im Anblick unserer derzeitigen Situation hervor. Ich war zwar überglücklich, dass mein Vater und ich wieder zueinander gefunden hatten, jedoch hatte ich dafür meinen Freund und Geliebten Jonathan verloren. Mein Herz zog sich vor Kummer zusammen, wenn ich alleine daran dachte.

Mein Vater und ich waren Zeitreisende, ebenso mein verschollener Partner Jonathan. Dieser war der Enkel von dem Museumsdirektor Rainer Abel, welcher früher einmal der Zeitreisepartner und Vorgesetzter meines Vaters gewesen war... zumindest, bis dieser meinen Vater während einer Zeitreise umgebracht hatte. Und all das geschah nur, weil er die Ideologie des Direktors nicht teilte. Jonathan und ich hatten darauf also entschieden, sein Leben durch eine halsbrecherische Aktion zu retten, wobei allerdings etwas schief ging, mein Partner spurlos verschwand und ich am Schenkel verletzt wurde.

Wir erreichten endlich das obere Ende der Treppe. »Wir haben Zimmer drei«, sagte er und ich hielt Ausschau nach der Nummer. Sobald ich sie entdeckte, nahmen wir die restlichen Meter auf uns und Vater schloss den Eingang auf.

Als die Tür sich entriegelte, löste sich etwas in mir. Zum ersten Mal seit Jonathans und meinem Aufbruch ins tiefste Mittelalter fühlte ich mich richtig geborgen - mit einer Person, die mich liebte an meiner Seite, einem Dach über dem Kopf und einem gemütlichen Bett.

Wir traten hinein und hatten nichts weiteres, als die Klamotten an unseren Körpern, ein wenig Geld und eine kleine Reisetasche mit Wechselkleidung. Ich ließ mich auf das Bett sacken und atmete auf. Mein Oberschenkel pochte vor Anstrengung.

Vater schloss die Tür und schaute mich an: »Du bist schon wieder so blass. So kann ich dich nicht auf die Suche nach Jonathan schicken.«

»Es wird schon gehen«, versicherte ich ihm, obwohl ich mir da nicht so ganz sicher war. Aber ich wollte Jonathan endlich wiedersehen, seine Körperwärme spüren und seinen Duft in mich hinein saugen. »Bis ich bereit bin eine Zeitreise anzutreten, bedarf es ohnehin genügend Vorbereitungszeit.«

Vater zog die Stirn kraus. »Du hast doch gar keine Ahnung, wo er sich befindet«, gab er zu bedenken. »Dass er dich damals im 18. Jahrhundert fand, war nicht nur unglaubliches Glück, sondern auch eine absolute Zumutung. Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, dass ihn nun das gleiche Schicksal ereilt.«

Meine Augen weiteten sich und ich starrte meinem Erzeuger entgegen, als habe ich mich gerade verhört. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Straßen Paris' vor mir und wie ich über sie hinweg eilte, um so schnell wie möglich Jonathan zu finden. Ich spürte noch genau den Schreck in meinen Gliedern, als ich erfuhr, dass er verschwunden war. Auch wenn ich damals die Hoffnung aufgegeben hatte gefunden zu werden - so war diese Hoffnung in den Augen jemand Anderes niemals erloschen.

»Sag sowas nicht«, mahnte ich und meine Muskeln spannten sich alleine bei der Erinnerung an meine Vergangenheit an. Trauer überkam mich, als ich an all das dachte, was ich und meine Familie aufgeben mussten. »Er gehört in keine andere Zeit, als in die seine.«

Chroniken der Zeit (II) [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt