Türkisblau

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April steht mit ihrem himmelblauen Surfbrett am Strand und blickt auf das türkisblaue Meer hinaus. Sie beobachtet die Wellen, wie sie immer wieder ans Ufer kommen, nur um dann wieder zurück ins Meer zu kehren. Der Sand zu ihren Füßen ist warm und feucht von dem Meerwasser.

Apropos Wasser, dieses Blau, dass nicht wirklich blau, aber auch nicht grün ist, sondern etwas zwischen diesen beiden Farben erinnert sie an jemand - Jude. Seine Augen hatten die Farbe des Meeres. Sie waren leuchtend blau und haben April von der ersten Sekunde an fasziniert.

April zieht hastig die salzige Luft ein, um nicht schon wieder dieses Gefühl kurz von dem Aufkommen der ersten Tränen zu erleben. Dieser Moment, wenn ihr Hals ganz trocken wird und sie das Gefühl hat keine Luft mehr zu bekommen. Das ist einfach zu viel.

Es ist unfair, dass sie noch hier steht und Jude nie wieder das Meer sehen kann. Das Meer, dass sie beide so sehr geliebt haben. Sie liebten das Meer mehr als sie sich gegenseitig liebten.

Jetzt hat April nur noch Angst vor dem Ozean und dem Wasser, dass alles und jeden töten kann. Das Meer fragt nicht nach, ob jemand leben möchte oder ob jemand noch gebraucht wird. Es nimmt Leben so, wie es möchte. Es macht was es will, weil es die Macht dazu hat.

Früher fand April diese blauen Wellen und den weißen Sand, magisch, faszinierend und atemberaubend. Den Atem raubt ihr dieser Anblick immer noch, aber nicht auf die gute Art und Weise, sondern auf eine schlecht.

Alles hier erinnert sie an Jude, der nicht mehr hier ist. Den Jungen mit den türkisblauen Augen. Wie oft waren die beiden zusammen an diesem Strand? Letzten Sommer haben sie jeden Tag zusammen hier verbracht und wollten gar nicht mehr nach hause.

Jetzt kann April nur noch daran denken, wie sehr sie von hier weg möchte. Aber sie ist nicht hergekommen, um gleich wieder zu gehen. Sie hat nicht extra ihr Surfbrett mitgemacht, um es am Strand spazieren zu tragen.

April ist hergekommen, weil sie ein für alle mal mit der Sache abschließen möchte.nSie will ihre Angst vor dem Meer besiegen und sie muss Jude vergessen. Sie muss ihn vergessen, weil sie weiter machen muss. Sie lebt und Jude würde wollen, dass sie glücklich wird.

April macht einen Schritt auf das türkise Wasser zu. Ihr ganzer Körper zittert und sie muss wieder stehen bleiben. Eine sanfte Brise zerrt an ihren dunklen Haaren. Leicht verzweifelt beißt sie sich auf die Unterlippe und stellt sich vor, was Jude zu ihr sagen würde, nur um sich im nächsten Moment darüber klar zu werden, dass Jude nicht mehr hier ist und es nie wieder sein wird. Sie wird ihn nie mehr wieder nach seiner Meinung fragen können oder sein Lachen hören. Seine Stimme existiert nur noch in ihrem Kopf. Genauso wie Jude es tut.

April bemüht sich gleichmäßig ein und aus zu atmen und umklammert das Surfbrett, als wäre es ein Rettungsanker. Sie schließt die Augen und versucht alle Gedanken an Jude aus ihrem Kopf zu verbannen. Wenn er weiterhin in ihrem Kopf ist, dass wird das nie etwas. Solange sie immer wieder sieht, wie die Welle ans Ufer rauscht und Jude samt Surfbrett unter Wasser zieht. Schnell schüttelt sie den Kopf und sprintet in Richtung Wasser.

Als ihre Zehenspitzen das angenehm kühle Meerwasser berühren zuckt sie etwas zusammen. Seit einem Jahr war April nicht mehr hier. Ein Jahr ist seit Judes tödlichem Unfall vergangen und trotzdem kann sie ihn nicht vergessen. Er taucht immer wieder auf und lässt sie nächtelang nicht schlafen können. Diese Nächte sind die schlimmsten, wenn April immer wieder erleben muss, wie Judes lebloser Körper ans Ufer gespült wird.

Heftig schüttelt sie den Kopf und geht weiter ins Wasser, bis sie sich auf ihr Surfbrett setzen kann. Stumm beobachtet sie die ankommenden Wellen und das Brett unter ihr wird leicht durch geschaukelt. Sie erlaubt es sich nach links zu sehen und stellt sich vor, wie Jude neben ihr im Wasser auf seinen Brett sitzt. Was wenn sie eine Welle falsch einschätzt und damit mit ihrem Leben bezahlen muss? All diese Ängste kreisen in ihrem Kopf und machen sie schier verrückt, aber es hat keinen Sinn mit dem aufzugeben, was sie noch mehr geliebt hat als Jude. Er würde niemals wollen, dass sie wegen ihm das Surfen aufgibt. Er würde wollen, dass sie weiter macht.

April entdeckt eine Welle, die in ihrem Augen perfekt für den Anfang ist und legt sich auf ihr Brett. Sie paddelt in Richtung der Welle und springt im richtigen Moment auf, sodass sie beinahe über die Welle schwebt. Sie lächelt und fängt an zu schreien, weil das Gefühl, dass in ihr hochkommt einfach überwältigend ist. Ihr fällt kein anders Wort ein, um dieses Gefühl zu beschreiben. Es gibt nur eine Sache, die für April vergleichbar mit diesem Gefühl ist und das waren Judes Lippen auf ihren. Diese Schwerelosigkeit, das Kribbeln im Bauch und diese Euphorie. Es ist einfach unbeschreiblich. April stellt sich vor, dass Jude sie genau in diesem Augenblick beobachtet und genauso lächeln muss, wie sie.

Endlich tut sie wieder das, was sie geliebt hat, selbst wenn sie es ohne den Menschen tun muss, der ihr Leben war. April blickt auf das türkisblaue Meer und ihr kommen zum ersten mal nicht die Tränen, wenn sie an Jude denkt.

April wird klar, dass Jude immer da sein wird. Er ist hier im Meer und noch viel wichtiger ist, dass er immer einen Platz in Aprils Herzen haben wird. Solange man an jemand denkt, ist er nicht gänzlich tot. Jude lebt vielleicht anders weiter als April, aber beide leben sie auf unterschiedliche Art und Weise irgendwo weiter und hier im Meer treffen sie immer wieder aufeinander, auch wenn sie es nicht merken können.

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