Cassiopeia
Dass ich anders war als die anderen Kinder oder besser gesagt, genauso wie der Rest meiner Familie, merkte ich das erstemal in der Grundschule.
Ich dachte zuerst es wäre ein Tag wie jeder andere gewesen und ich wunderte mich nicht mal darüber, dass unsere Lehrerin Mrs. Tibbit so niedergeschlagen zu sein schien, denn das war sie schon seit Wochen. Deshalb lies sie uns auch mal wieder ein Bild malen statt mit ihrem Unterricht fortzufahren und blätterte selbst, währenddessen, rührselig in einem ledergebundenen Fotoalbum.
Vielleicht hätte ich ja Angst haben sollen, als ich den kleinen, blassen Jungen mit den tief in den Höhlen sitzenden Augen und den ordentlich geschnittenen und gescheitelten Haaren, der sich an den Nacken von Mrs. Tibbit klammerte, sah.
Aber ich war mit dem Glauben an Geister aufgewachsen, obwohl ich bis zu diesem Tag, noch nie wirklich einen gesehen hatte.
Und so sollte ich den Grund für die verquollenen Augen und das ständige Schniefen von der mittelalten, mit einer riesigen, kastenförmigen Brille und dunklen, schlampig hochgesteckten Haaren versehenen und meist braun tragenden Dolores Tibbit, erfahren.
Der kleine Junge war ihr Sohn Francis und er war Wochen vorher beim Spielen mit seinen Freunden von einem Auto angefahren worden. Derjenige hinter dem Steuer war geflohen und Francis lag von da an schwer verletzt im Krankenhaus. Ich kannte ihn nur flüchtig vom letzten Schulfest, an dem seine Mum ihn mitgenommen hatte.
In dem Moment, in dem der kleine Junge mir, sich an seine Mutter klammernd, erschienen war, war er aus der Welt der Lebenden geglitten und hatte sich aus Unwillen ins Jenseits zu ziehen an dem Wichtigsten festgehalten, dass er als er noch nicht gestorben war gehabt hatte.
Damals hatte ich mit mir gerungen, ob ich ihr erzählen sollte was soeben geschehen war. Ich wusste um den Ruf meiner Familie und Mrs. Tibbit auch, aber trotzdem war ich der Meinung sie sollte es erfahren.
Also hob ich, damals acht Jahre alt, meine Hand. Die leise vor sich hinschluchzende Frau hinter dem Lehrerpult bemerkte mich zuerst gar nicht. Zu sehr war sie vertieft in das Album mit den Fotos vor ihr.
"Mrs. Tibbit", hatte ich gesagt und dabei meinen Arm zurück auf meinen Tisch gelegt, "Mrs. Tibbit ...", ich schluckte, "... ihr Sohn ist tot".
Den Blick den sie mir zuwarf nachdem ich das gesagt hatte, brannte sich in mein Gehirn. Es war ein ständiges hin und her, zwischen Wut, Unglauben und Trauer. Aufgesprungen war sie, Tränen perlten aus ihren dunklen Augen und tropften auf die Fotos in ihrem Album, das aufgeschlagen auf dem Pult lag.
"Woher weißt du von meinem Sohn?", hatte sie gezischt, "Findest du es etwa witzig, mit den Gefühlen einer besorgten Mutter zu spielen?"
Aus heutiger Sicht, konnte ich es verstehen weshalb sie sauer auf mich war. Wahrscheinlich hatte sie geglaubt ich hätte versucht ihr einen gemeinen Streich zu spielen.
Damals aber, verstand ich es nicht.
Mrs. Tibbit, zitternd vor purem Zorn und die Blicke der anderen Schüler ignorierend, war einige Schritte auf mich zugekommen und ich hatte wirklich geglaubt sie würde mich schlagen.
Aber sie wurde gebremst und zwar von der Sektretärin die ihren Kopf zur Tür hinein steckte und unsere Lehrerin bat mit ihr zu kommen.
Mrs. Tibbit kam nie wieder zurück. Manche sagten sie wäre nachdem sie ihren Sohn verloren hatte aus Clockwork fortgezogen, andere meinten sie habe sich aus lauter Kummer von einer Brücke geworfen.
Was wirklich mit ihr passiert war, blieb ein Rätsel.
Ich erhielt keine offizielle Strafe von der Schule.
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Voices of the Dead
Teen FictionIn der Kleinstadt Clockwork, am Fuße des Harrison West-Hill, steht ein altes Haus. Es ist windschief und efeubewachsen und in ihm wohnen die Totenbeschwörerinnen Nephele, Trixie, Lucia und Cassiopeia. Offiziell werden sie von den religiösen Fundamen...