Kapitel 1: So leicht kommst du nicht davon

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Bleiben oder gehen?

Genau genommen ist das ganze Leben nur eine Abfolge von Entscheidungen ob man bleibt oder geht. Ob man auf dem sicheren Weg bleibt oder etwas Neues wagt. Ob man an einem Ort bleibt oder einen neuen sucht. Ob man bei einer Person bleibt oder sie verlässt. Was ist ein Fort- oder ein Rückschritt? Ab wann ist die Entfernung groß genug und wann findet man endlich die Ruhe zu bleiben? Jeder Mensch braucht jemanden auf den er sich verlassen kann und jemanden, der sich auf ihn verlässt. Das Gefühl gebraucht zu werden ist im Prinzip das wonach sich jeder am Ende sehnt. Eine Begründung, eine Rechtfertigung warum man hier ist, warum man nicht überflüssig ist, das was dich ausmacht. Manchmal begnügt man sich damit, dass diese Zeit noch kommen wird, die Zeit in der man für jemanden da sein kann und darauf bereitet man sich vor. Denn Einsamkeit ist weitaus beängstigender als der Gedanke etwas zurück zu lassen. Wir leben in einem ständigen Kreislauf der Veränderung und darum ist es auch so kostbar, wenn man bleiben kann. Aber was ist, wenn die Anwesenheit jemandem schadet? Einer wichtigen Person oder sogar mehreren. Dann hat man keine andere Wahl als zu gehen, oder? Was wenn genau diese Entscheidung mehr Schmerz hinterlässt? Wo ist der Weg dazwischen? Der richtige. Gibt es den überhaupt? Ich schätze, wenn man jemanden gefunden hat für den man alles tun würde lässt sich die Antwort nur gemeinsam finden.


Ich lauschte. Eine Uhr tickte leise, offenbar waren nicht viele Besucher im Laden momentan. Sehr gut. Vorsichtig erhob ich mich und lief die Wand entlang. Rechts von mir waren einige Einweggläser aufgereiht in verschiedenen Farben und Formen. das Licht welches durch sie hindurch viel wurde in unterschiedlichen Varianten an die Holzwand links neben mir geworfen. Einige von ihnen waren recht klein, vielleicht mal einen halben Meter hoch oder so, aber die meisten überragten mich doch um einiges. Ich musste vorsichtig sein. Auch wenn der kleine Supermarkt zurzeit recht leer war, irgendwelche Menschen waren immer da. Deswegen war ich gerade auch auf dem obersten Regal. Menschen tendieren dazu eher nach unten zu sehen als nach oben, das hatte ich inzwischen gelernt. Trotzdem suchte ich bei jeder Gelegenheit Deckung hinter den großen Gegenständen. In meiner einen Hand hielt ich einen Angelhacken, an dessen Ende ein Seil befestigt war. Solch ein Hilfsmittel half ungemein beim Klettern. Ich hätte das schon viel früher mal dran denken sollen. Auf einmal hörte ich Geräusche. Ein dumpfes Stampfen auf dem Fußboden. Dann ein tiefes keuchen und plötzlich klirrte es. Nicht weit von mir wurde eines der Gläser herausgenommen. Ich stolperte zurück und hielt den Atem an. Ich sah die großen Finger, welche breiter als mein Arm waren und die Hand welche ohne Probleme als Bett ausgereicht hätte. Ich zog scharf die Luft ein und duckte mich schnell hinter ein paar Oliven in einem Einwegglas. Ich beobachtete mit pochendem Herzen, wie das schwere Objekt, nicht weit von mir entfernt, angehoben wurde und dann aus meinem Sichtfeld verschwand. Durch das Glas hindurch sah ich auf den Kopf des Menschen herab und wartete ruhig bis er weg war. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Ich atmete tief durch und ging dann weiter. Am hinteren Ende des Regals angekommen sah ich mich um ob jemand in der Nähe war und warf dann den Angelhaken nach oben, so dass er sich im Holz verkeilte. Mit Anstrengung zog ich mich hoch und ließ mich oben auf das kalte Holz fallen. Wer sich jetzt fragt, wozu der ganze Aufwand: Ganz einfach. Wegen der Person, die momentan an der Kasse arbeitet. Ich zwängte mich an ein paar Kartons vorbei und hatte endlich freie Sicht. Da stand er gutaussehend wie immer und redete gerade mit einem Kunden. Ich musste lächeln. Man konnte ihm ansehen, dass er keine Lust hatte, zumindest ich konnte das, und trotzdem war er immer höflich zu jedem.

Erleichtert ließ ich mich zurück fallen. Aber natürlich bei meinem Glück stieß ich gegen eine große Kornflakespackung, die leider nicht so schwer war, wie sie aussah. Unaufhaltbar kippte sie um und viel herunter bis auf den Boden. Mit einem dumpfen Knall landete sie dort und alle starrten darauf. Shit. Schnell versteckte ich mich hinter einen benachbarten Karton, aber es war zu spät. Der nächste Ort der zweifellos untersucht werden würde, war mein Standort. Einige Besucher nuschelten leise miteinander ob es hier Mäuse gäbe. Was für eine Beleidigung! Aber mir blieb die Luft im Hals stecken als plötzlich die Packung rechts neben mir aus dem Regal genommen wurde und jemand dahinter sah. Nein, nein, nein. Ich stolperte hoch und versuchte schnell weg zu huschen, aber auf der linken Seite war das Regal zu Ende. Der nächste Karton wurde heraus genommen. Ganz nah bei mir.

Ein großes Herz für eine kleine Welt - StexpertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt