Kapitel 1 [1. Fassung - Archiv]

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23. Juni 2271 Jim

Daya war so ziemlich das nervtötendste weibliche Wesen mit dem Jim jemals eine Nacht verbracht hatte. Wenn sie nicht gerade redete, schnarchte sie. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein dezentes Schnarchen, wie es allgemein bekannt war. Nein, Dayas war lauter als ein schlafender Zoo.

Er hatte sie ihn einer Bar aufgegabelt, das arme Ding war gerade von ihrem Freund -Ex Freund- abserviert worden. Damals verstand er es nicht - Sie war alles andere als hässlich - aber jetzt konnte er es sich gut vorstellen. Eine ganze Symphonie Wahlrösser wäre nicht im Stande gewesen solche Geräusche zu produzieren. Nicht dass er jemals eins gesehen hätte, geschweige denn gehört, aber er erinnerte sich in der Grundschule einige Aufzeichnungen gesehen zu haben.

Jim hatte sich bereits mehrfach überlegt, das Weite zu suchen, als Daya bereits kurz nach Mitternacht eingeschlafen war. Dabei hatten sie noch nicht mal richtig begonnen Spass zu haben. Spass, nach dem hatte die Blondine ausgesehen als er ihr über den Weg gelaufen war. Aber das hier, das war kein Spass. Zumindest war es nicht die Art von Vergnügen, die sich Jim unter dem Wort "Spass" vorstellte.

Doch immer wenn er kurz davor war, ihre Hand vor seiner nackten Brust zu nehmen und sich davon zu machen, fürchtete er sie könne plötzlich hochschiessen und ihm mit ihren scharfen Nägeln die Augen auskratzen, wenn nicht sogar schlimmeres.

Mittlerweile war es fünf Uhr Morgens. Die Sonne hatte noch lange nicht vor sich blicken zu lassen. Jim hatte unterdessen Gefallen daran gefunden, die schlecht verputze Decke beim Bröckeln zu beobachten. Er hatte die faszinierende Entdeckung gemacht, das bei jedem von Dayas einzigartigen Atemzügen, ein kleines Stück des Verputzes sich zu lösen schien und in kleinen Staubkrümeln auf ihre Stupsnase hinab glitt. Vielleicht, überlegte er, waren es aber auch nur Halluzinationen, die durch die ständig anschwellende Müdigkeit und den Alkohol hervorgerufen wurden.

Ein Mal wäre er beinahe eingenickt, doch dann hatte ihm das Schicksal wortwörtlich einen Schlag ins Gesicht verpasst. In diesem Fall verkörperte Dayas Hand das Schicksal. Die unruhige Schläferin hatte ihren ausgestreckten Arm, mitten in sein Gesicht bugsiert. Danach wagte er es kaum mehr zu blinzeln. Zumindest bis zu dem Augenblick, als der zunehmende Drang zu Schlafen das Steuer in die Hand nahm.

Um Viertel vor Sieben kam der erlösende Anruf. Nun jedoch schlummerte der Captain im Dienst friedlich, das lästige Piepen nur eines der vielen Geräusche in seinem Hinterkopf, die sofort in die Schublade "Unwichtig" abgeschoben wurden.

Was Jim überhaupt nicht störte, lockte jedoch etwas Anderes aus seinem Schlaf heraus. Dayas Geschnarche wandelte sich binnen Sekunden in lautes Fluchen um. Dabei jagte sie beim Aufsetzen Jim ihre "Krallen" in die Schulter. Dieser fuhr nun ebenfalls hoch und stiess eine kurze, aber aussagekräftige Verwünschung aus.

Die Marsianerin scherte sich nicht im geringsten um das Wohlergehen ihrer Gesellschaft und grub sich ohne zu zögern durch den Kleiderhaufen, den Jim am Fußende des Bettes hinterlassen hatte. Er wollte protestieren, doch sie hielt bereits seinen Kommunikator in der Hand. Mit einem genervten Funkeln in den kupferfarbenen Augen öffnete sie die Verbindung und säuselte zuckersüß in das Gerät.

"Guten Morgen, hier spricht Daya Lyra, James ist momentan sehr beschäftigt und ich schwöre, wenn sie noch einmal um diese Zeit anrufen, reiß ich ihnen höchstpersönlich den Kopf ab."

Damit war das Gespräch für sie beendet, doch als die Stimme am anderen Ende der Leitung sich erhob, färbte sich ihre leicht gebräunte Haut kreidebleich.

"Admiral La'ony", Daya schluckte den Kloss in ihrem Hals herunter und fasste sich mit zitternder Stimme, "Was für eine Überraschung."

Mit einem entschuldigenden Blick und nun zurückhaltender Haltung überreichte sie Jim schweigend den Kommunikator. Daraufhin zischte sie grummelnd ins Bad ab. Die erhoffte Beförderung würde wohl nach dieser Aktion in den Tiefen des Weltalls verschwinden, wo sie niemals erreicht werden konnte.

Schnellen Schrittes steuerte Jim auf das Hauptquartier der Sternenflotte zu. Ein enormer Gebäudekomplex im Herzen Bostons. Umhüllt von einer Fassade aus Glas, reflektierten die Aussenwände das Licht in alle Richtungen und glitzerte wie ein Diamant. Insofern die Sonne ihre Strahlen bereits weit genug ausgebreitet hatte. Jetzt wurde sie aber noch von den Dächern der umliegenden Gebäuden abgeschirmt und nur die obersten Stockwerke wurden in Licht getaucht.

Der Platz davor war noch relativ leer, nur vor dem Anbau der Akademie trieben sich bereits einige Kadetten herum. Noch vor weniger als zwei Jahren hätte er selbst zu diesen  gezählt. Nur wäre er um diese Zeit meist noch anderswo beschäftigt gewesen oder hätte noch geschlafen, wobei er gut und gerne auch mal zu spät zu Vorlesungen erschien. Das waren noch Zeiten.

Ungeduldig beschleunigte er seinen Gang, während er sich einen Weg durch das Labyrinth von Korridoren im Inneren bahnte. Es war ihm immer noch schleierhaft weshalb man ihm zu dieser frühen Stunde herbeordert hatte. Das ungute Gefühl in seinem Magen liess ihm keine Gelegenheit von diesen Gedanken wegzukommen und breitete sich mit jedem Meter, den er hinter sich liess, weiter aus.

Erst vor einer massiven Holztür verkürzte er seine Schritte und kam schliesslich ganz zum Stehen. Ein dumpfer Klang erfüllte die Luft, als er drei Mal kurz gegen das Holz klopfte. Nur Sekunden später tat sich ein Spalt auf, durch den er ins Innere schlüpfen konnte.

„Commander Ceros, sie haben sich reichlich Zeit gelassen." Jim verzog keine Miene. Er wusste wie La'ony tickte, ganz besonders dass sie keinen Spass verstand. Ziemlich sicher hatte die Frau noch nie in ihrem Leben gelacht. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, hielt er sie für einen Androiden, insgeheim tat er es immer noch.

Bedacht liess er sich auf dem Stuhl nieder, den sie ihm mit einem knappen Nicken anbot. Seine Stirn legte sich in Falten, er wiederholte vorsichtig ihre Worte. „Commander?" Er glaubte sich verhört zu haben und richtete nun zum ersten Mal seine Ganze Aufmerksamkeit auf seine Vorgesetzte mit den straff zurückgekämmten Haaren. Vielleicht konnte sie ja doch Witze machen. Ihre gefasste Miene und der starre Blick sagten jedoch etwas anderes. Und doch begann sie zu lächeln. Kein fröhliches Lächeln, ein schadenfreudiges.

„Sie wurden versetzt."

LEVIATHANWo Geschichten leben. Entdecke jetzt