Mario 1.

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Der Regen klatschte gegen das kleine Fenster. Rußpartikel verunreinigten das Wasser und zogen Schlieren über das einfach verglaste Fenster.

Mein Blick war starr nach draußen gerichtet.

Grau.

Das war die einzige Farbe, die ich sah.

Die Lieblingsfarbe aller Bewohner war weiß. Doch in Kombination mit der schmutzig, rußigen Luft waren Häuser und Zäune grau geworden.

Ich wohnte in einem der Außenbezirke der Stadt, in der Nähe des Zaunes.

Eben jenes Zaunes, der uns vor dem Übel, welches dort draußen lauerte beschützte und uns gleichzeitig einsperrte.

Legenden, Gerüchte und Getuschel berichteten von Infizierten, Monstern und Rebellen, die dort draußen ihr Unwesen trieben und nur auf ihre Chance warteten, die ganze Stadt zu infizieren und das System zu zerschlagen.

Der Großteil dieser Geschichten mochten Märchen sein. Doch jedes Märchen hatte einen wahren Kern.

Rebellen hatte ich schon mit eigenen Augen gesehen. Man konnte ihnen ansehen, wie sie unter der Krankheit litten, die sie selbst gewählt hatten – Ihr Blick war wirr und ihre Bewegungen unbeherrscht, von ihrer Sprache ganz zu schweigen.

Ich war Protokollant im Gericht der Stadt . Mit einem ziemlich guten Abitur hatte ich es geschafft einen der wenigen Arbeitsplätze zu ergattern. Denn in einer Stadt die Meilen von anderen Städten entfernt ist und vor Menschen fast überläuft, nur zurück gehalten von einem Zaun waren Arbeitsplätze Mangelware.

Wer keine bezahlte Arbeitsstelle bekam hatte vier Optionen :

1. Er nistet sich bei seiner Verwandtschaft ein und lässt sich von ihr durchfüttern.

2. Er nimmt die Gefahren auf sich und reist in eine andere Stadt.

3. Er verhungert langsam und qualvoll

oder

4. Er geht in eines der Industrielager außerhalb der Stadt. Dort arbeitet er Seite an

Seite mit Infizierten und Experimenten aus den Särgen.

Kopfschüttelnd wandte ich mich vom Fenster ab und sah mich in dem kleinen Raum um, den ich stolz 'mein Zimmer' nennen durfte.

Nicht viele Menschen, die in einem Außenbezirk wohnten konnten von sich behaupten, ein eigenes Zimmer zu besitzen. Auch wenn es noch so klein war.

Ich wohnte bei meiner  Tante und meinem Onkel

Sie waren gute und rechtschaffene Leute, die es nicht verdient hatten unter den Straftaten meiner Eltern leiden zu müssen.

Eben sowenig wie ich.

Nach der Verhaftung meiner Eltern vor acht Jahren hatte man mich in eben jenem Saal verhört, in dem ich heute arbeitete. Man wollte herausfinden, ob ich mich bei meinen Eltern angesteckt hatte. Man hatte auch ein paar Tests gemacht, doch die Erinnerung daran war mir genommen worden. Alles, was ich davon zurückbehalten hatte war eine kleine Narbe zwischen den Augen.

Zu meinem Glück war der Test negativ ausgefallen und man hatte mich zuTante und Onkel geschickt, da ich mit meinen zarten 11 Jahren schlecht für mich selbst sorgen konnte.

Meine Tante war die Schwester meiner Mutter gewesen. Diese Tatsache war nur schwer zu übersehen, sie hatte die selben wirren rabenschwarzen Haare und eisblauen Augen wie meine Mutter und ich.

Dieses Aussehen war wie ein Brandmahl. Niemand wollte etwas mit uns zu tun haben, denn jeder erkannte mit einem Blick die Verwandtschaft meiner Tante und mir mit der Infizierten. Und jeder hatte Angst, dass wir doch infiziert sein könnten und den Virus an sie weitergeben könnten.

Den Virus, der sich Liebe nennt.

Ich ließ mich auf mein Bett fallen und starrte an die ehemals weiße Decke. Der Kerzenruß hatte sie grau gefärbt. Und wenn der Lichtschein der Kerze flackerte sah es manchmal aus, als würden die Flecken tanzen und durch schwarze Löcher in eine andere Dimension fliehen.

Elektrisches Licht verwendete hier in den Außenbezirken niemand mehr. Es musste gespart werden, wo man nur konnte. Geld und Strom waren knapp. Zudem hatte man täglich nur eine begrenzte Menge an Elektronen zur Verfügung und die wurden anderweitig benötigt. Beispielsweise zum Kochen oder für das Pflichttelefon, welches jeder Haushalt besitzen musste um in Notfällen sofort die Polizei oder Regierung informieren zu können.

Mein Blick wanderte durch das Zimmer, es war sehr sparsam eingerichtet:

An der Wand rechts neben der Tür stand direkt im Anschluss mein Bett. Gegenüber der Tür stand der Schreibtisch vor dem einzigen Fenster in meinem Zimmer und direkt daneben stand mein Kleiderschrank. Ich bewahrte darin alle meine wenigen Kleidungsstücke auf, vier T-Shirts, zwei Langarmhemden, eine Jeans, eine kurze Hose, eine dünne Jacke, einen uralten Anorak und meinen Arbeitsanzug mit den unbequemen Schuhen.

Ich hatte mein Zimmer vor ein paar Jahren vermessen, um mit der kleinen Fläche, die mir gehörte prahlen zu können. Das Ergebnis war ernüchternd gewesen: drei Meter in der Breite, zwei Meter in der Länge und zwei Meter in der Höhe. Ich hatte Glück gehabt, dass ich aufgehört hatte zu wachsen. Sonst hätte mein Kopf an der Decke gestriffen.

Ich musste lächeln, als ich mich daran zurück erinnerte, wie ich nach der  Verhaftung meiner Eltern zwanghaft um die  Aufmerksamkeit und Akzeptanz der andern buhlte. Doch mit der Verhaftung meiner Eltern war ich zum Sündenbock der ganzen Stadt mutiert.

Mein Blick wanderte erneut zu dem kleinen Fenster über dem Schreibtisch.

Der Regen war stärker geworden und durch das Rußverschmierte Fenster konnte man kaum noch etwas erkennen. Seufzend erhob ich mich von der harten Matratze und sah auf die Uhr, welche über meinem Bett hing. Es war fast halb sieben.

Ich zählte die Sekunden herunter und in genau dem Moment, in dem der große Zeiger auf die sechs ruckte schrie meine Tante :

„Abendessen!"

Ein bitteres Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

Auf die Sekunde genau.

So wie jeden Tag.

Und so wie jeden Tag ging ich in gemäßigtem Tempo und dem gleichen Rhythmus wie jeden Tag die Treppe hinunter.

Die KrankheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt