Vivienne 5.

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Ich wurde durch hartnäckiges Rütteln an der Schulter abrupt aus meinen Träumen gerissen, es war noch immer dunkel. Ich gab ein unwilliges Geräusch von mir und drehte mich auf die andere Seite um weiter zu schlafen. Doch da begann das Rütteln von Neuem. Dazu gesellte sich eine männliche Stimme, die wehemmend versuchte mich in den Wachzustand zu zwingen. Ein grummeln entwich meiner Kehle und die Person lachte leise.

Ich kannte dieses Lachen !

Augenblicklich saß ich kerzengerade im Bett und sah Luis in die grauen Augen.

Er war leicht zurück gezuckt und lächelte jetzt müde. Man sah ihm an, dass er geweint hatte und etwas regte sich in meiner Brust. Die tief eZuneigung aus unserer Kindheit hatte ihre Spuren hinterlassen. Ich wollte gerade ansetzen und ihn fragen, warum er geweint hatte, da strich er mir mit dem Zeigefinger über die Lippen und flüsterte:

„Schhh." Er nahm meine Hände in seine und ich ließ es geschehen. Ich wollte bei dieser möglicherweise letzten Begegnung nicht harsch und abweisend sein. Ich wusste nicht warum, doch ich wünschte mir, dass er mich als das nette Mädchen von früher in Erinnerung behielt.

Verwundert ,dass ich ihn nicht geschlagen oder angefaucht hatte sah er zu mir auf. Ich schenkte ihm ein leichtes Lächeln. Bald, wenn die Sonne aufging würde ich fort sein.

„Du lächelst." Stellte er verwundert fest und eine kleine Träne schlich sich aus seinem Augenwinkel.

„Jetzt wo du gehst lächelst du." Ein Schluchzen kämpfte sich seine Kehle nach oben und er biss sich auf die Unterlippe. Ich hatte noch immer kein Wort gesagt. Sah ihn einfach nur an. Studierte sein Gesicht. Die vom weinen geröteten Augen, die langen Wimpern, die Kerbe im Kinn, die kleine silbern schimmernde Narbe auf der Stirn, das weißblonde Haar. So wollte ich ihn in Erinnerung behalten falls ich nicht zurückkäme. Und machen wir uns nichts vor, die Chance, dass ich es zurück auf die andere Seite der Mauer schaffen könnte war auffallend gering. Nur wenige hatten dieses Kunststück bisher geschafft und jeder von ihnen war entstellt zurück gekommen. Verbraucht von den Experimenten, der Folter und der harten Arbeit in der Fabrik.

„Ich will nicht das du gehst!", brach es aus Luis heraus. „Es ist nicht fair ! Warum schicken sie niemanden der älter ist, jemanden der sein Leben schon hinter sich hat ? Warum du ?"

Ich strich mit einer Hand durch sein Haar und ich fühlte, wie er unter dieser Berührung schauderte.

„Ich bin nun einmal die, die sich am besten für diesen Job eignet. Ein Greis könnte nicht tun was ich kann. Zudem bin ich die unbeliebteste Person in diesem Clan falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Ich wäre kein Verlust und jeder im Rat hasst mich. Also ..." Der Ausdruck auf Luis Gesicht versteinerte.

„Du musst das nicht tun, wir gehen gemeinsam weg – du und ich." Beinahe hätte ich gelacht, doch ich wollte ihn nicht verletzen. Nicht mehr. Sollte ich es irgendwie doch zurück schaffen hätte ich noch mehr als genug Zeit dazu. Ich grinste.

„Luis, wir sind kein Liebespaar wie Romeo und Julia. Außerdem ist es meine Pflicht." Er schnaubte.

„Ich verlange nicht von dir mich zu lieben, nur zu überleben. Warum verstehst du das denn nicht ? Du bist zu nichts verpflichtet! Keiner von ihnen hätte genug für dich getan, als dass du dich für sie opfern müsstest ! Keiner !"

Er war während dem Sprechen immer lauter geworden und stand nun vor mir.

„Du scheinst nicht zu verstehen,"  widersprach ich ihm „ es ist nicht meine Pflicht, weil ich in jemandes Schuld stehe, es ist meine Pflicht weil diese Richter die Sicherheit der Menschen gefährden, die ich liebe und die für das gleiche kämpfen wie ich."

Nun stand auch ich und dank der zusätzlichen Höhe des Bettes überragte ich ihn um wenige Zentimeter.

Bevor er noch etwas erwidern konnte machte ich einen wackeligen Schritt auf ihn zu, nahm sein Gesicht zwischen meine Hände und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Überrascht reagierte er zuerst gar nicht,dann erwiderte er den Kuss. Als ich mich von ihm löste flüsterte ich :

„So,jetzt hast du sie alle."

Verwirrt sah er mich an. Ich hatte es aus reiner Freundschaft getan. Ich wollte ihm diesen Wunsch erfüllen so lange ich noch dazu imstande war.

Ich hatte ja keine Ahnung, was ich damit anrichtete.

„Bitte geh jetzt. Du hast bekommen, was du so lange wolltest, also sei zufrieden und geh."

Die letzten Worte klangen härter als beabsichtigt und ich konnte ihm ansehen, wie gekränkt er war. Kein Wunder, er musste glauben ich würde ihn lieben. Warum konnte er denn nicht verstehen ?

„Du willst trotzdem gehen, nicht war? Du willst gehen obwohl du weißt, dass du sterben oder noch viel schlimmeres erleiden wirst." Entgeistert sah er mir in die Augen, als könne er mich alleine dadurch dazu bewegen den Plan aufzugeben.

„Nein," erwiderte ich „Ich will gehen weil  ich sterben könnte." Es ausgesprochen zu haben fühlte sich an, als würde eine schwere Last von meinen Schultern genommen. Mein Herz fühlte sich frei an und es begann voller Vorfreude in meiner Brust zu hüpfen. Ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.

Luis fror ein wie eine Eissäule. Die Ungläubigkeit sprach aus seinem ganzen Körper und ich begann zu lachen. Noch immer leise glucksend stieg ich zurück unter meine Decke. Luis hatte sich noch immer um keinen Millimeter bewegt.

„Was ist damals nur mit dir passiert, als deine Eltern starben? Viele haben Familie und Freunde verloren, aber niemand ist geworden wie du."

Seine Stimme war schneidend und kalt wie Eis. Er drehte sich um und verließ den Wohnwagen.

Mit der Ruhe kam die Traurigkeit. Mein Herz, dass sich erst soeben aus seinem Panzer gesprengt hatte zog sich zusammen und für einen Momentgab ich mich vollkommen dem Selbstmitleid hin. Doch bevor die Eisschicht erneut drohte mein Herz einzufrieren hielt ich inne, stand auf und betrachtete mich in einem kleinen Spiegel. Das Licht einer Öllampe spendete mir dürftig Licht. Ich sah eine todgeweihte Frau im Spiegel. Sie trug ihre braunen Haare kurz und ihre grünen Augen glitzerten herausfordernd. Stolz erfüllte mich, als ich diese Frau sah. Sie würde zum ersten mal in ihrem Leben etwas richtiges tun. Sie würde leiden und sie würde sterben für etwas an das sie glaubte. Für die Liebe, die sie nie erfahren durfte. Doch die wenigen Stunden die ihr vor ihrem Tod noch blieben würde sie leben.

Ich straffte die Schultern und trat hinaus in die Morgendämmerung.

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Mal wieder ein Doppelpack.

Btw, sorry für die unregelmäßigen updates ;(


Die KrankheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt