"Es war eigentlich ziemlich klar, dass es so mit mir zu Ende geht. Es war von Anfang an klar."
Ich nicke.
Er hat recht.In meinem Kopf plärrt immer noch Skyfall und irgendwie passt das perfekt.
Während ich dieses Lied früher gehört hatte, hatte ich immer das Bild von Adele mit einem attraktiven Typen vor einer kaputten Skyline, wie sie auf einer Dachterrasse stehen, Hand in Hand, und das ganze Desaster beobachteten.Und so war es jetzt. Nur, dass ich nicht mit David Hand in Hand da stand, nein wir lagen und starrten in den Himmel. Die Skyline war auch wie immer. Und wir lagen auf der Dachterrasse einer Musikakademie in Toronto.
Dennoch zerbrach gerade etwas.
David.
David...zerbrach.David leidet an Lungenkrebs. Die Ärzte hatten ihm vor nicht weniger als fünfzehn Stunden freundlicherweise mitgeteilt, dass es mit ihm wohl in vierundzwanzig Stunden vorbei wäre.
Nett.Das hatte ihm gereicht.
Wir hatten verbotenerweiße fluchtartig das Krankenhaus verlassen und uns auf diese Dachterrasse, mitten in den endlosen Weiten der Nacht, begeben.Ich hatte immer wieder versucht, David dazu zu bewegen, zu seinen Eltern zu gehen. Die letzten Stunden mit ihnen zu verbringen.
Aber er hatte sich geweigert. Wollte die letzte Zeit mit mir verbringen.
Mir.
Dem Mädchen mit dem dunkelbraunen Kurzhaarschnitt, den ich zutiefst bereute.
Mit der fetten schwarzen Nerdbrille, ebenfalls ein Fehlkauf.
Und dem fehlendem Selbstwertgefühl.
Das war ich.Nicht, dass David ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern hatte, im Gegenteil.
Seit bei ihm mit 11 der Krebs diagnostiziert wurde, liebten und umsorgten sie ihn, so extrem sie konnten.
Doch David hasste das.
Seit drei Jahren ließ er diese Prozedur über sich ergehen.
Er ist ein stiller Leidender. Doch in seinen letzten Stunden will er einfach nicht."Wie lange noch?"
"Sechs, vielleicht sieben Stunden.""David willst du das wirklich? Willst du dich nicht verabschieden?"
"Das ist mein Abschied.""Bist du dir sicher?"
"Absolut."Ich drehe den Kopf von ihm weg.
Was bin ich für David? Bin ich seine Freundin, eine Freundin oder irgendjemand anderes?
Ich weiß es nicht.Der Nachthimmel ist nicht so wirklich schwarz, wie in den Vorstellungen einer solchen Nacht. Es ist nicht einmal richtig dunkel.
Die Sterne können wir nicht sehen. Es ist kurz vor ein Uhr. Ich habe seit ein paar Stunden nicht mehr auf die Uhr geschaut und weiß es trotzdem. Und ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass es so ist."David?" Ich muss dringend was loswerden.
"Hm?"
"Heute...in der Schule...Melissa und ich...wir haben uns über Klavier unterhalten. Und als ich überlegt hatte wie lang ich meins jetzt schon hatte, hätte ich rein aus dem Bauch vielleicht vier Jahre gesagt. Und dann habe ich nachgezählt. Es ist schon sieben Jahre her. Sieben verdammte Jahre, David."Ich beginne zu weinen.
David nickt. Er versteh mich. Und dann tröstet er mich.
Ja.
Ein Sterbender tröstet ein kerngesundes Mädchen was wegen der Zeit flennt.
Gratulation.
"Grace." Er atmet tief aus und wieder ein. Sofern man seine Atmung als kräftig bezeichnen kann. "Grace, Verdammt ich verstehe dich. Ich verstehe dich voll und ganz. Bitte hör auf zu weinen."
Ich drehe mich auf seine Seite und wir verschränkten unsere Hände vollkommen unbewusst ineinander.
Meine Augenlider sind schwer, sie brennen. Meine Brille drückt.Ich schließe meine Augen und eine andere Melodie drängt sich plötzlich in mein Bewusstsein.
Ich kenne diese Melodie, es ist ein Lied, aber ich kann es nicht fassen, nicht benennen. Jedesmal, wenn ich mich auf den leisen Beat konzentriere, rückt er weg. Weiter weg, in die Schwerelosigkeit.Meine Augen sind fest zu, es ist dunkel, aber dennoch bildet sich in meinen Bewusstsein parallel zu dieser Melodie, eine weiße Fläche. Sie füllt mein gesamtes inneres Auge aus. Dann erscheint der Rahmen eines schwarzen Rechtecks. Und es bewegt sich, verzerrt sich wird kleiner und größer.
Ich weiß nicht, was für ein Zustand es ist. Ich bin bei Bewusstsein. Das ist kein luzider Traum. Das ist auch keine Bewusstlosigkeit. Das ist eine...Parallele Welt. Ja. So fühlt es sich an.
Ich kann mich nicht losreißen, zu groß ist die Faszination des Rechtecks.Doch schließlich gelingt es mir.
Ich öffne zaghaft meine Augen und sehe die Helligkeit. Die Sonne geht auf. Neben mir liegt niemand.
David ist weg.Wie lang war ich weg?
Drei, vier Stunden?
Länger.
Sechs Stunden.Ich drehe mich auf meinen Rücken und sehe David.
Er steht ganz am Rand der Dachterrasse und starrt auf Toronto runter.
Ich höre seinen rasselnden Atem.Es geht zu Ende. Wie gelähmt liege ich da. Was soll ich machen?
David dreht sich langsam zu mir um. Das Lied wird lauter. Deutlich lauter. Er legt sich auf den Boden. Er starr in die Aufgehende Sonne.
Und dann atmet er tief aus.
Die Sonne ziert sein perfektes Profil. Ich sehe jede Kontur.
Seine Augen sind sanft geschlossen.
Ich weiß was ich für David bin.
Ich bin einfach nur ich. Das reicht.Nach seinem tiefen Atemzug atmete David nicht mehr ein. Ich saß noch eine Weile so da und starrte in die Ferne.
Das Lied, welches nach kurz vor seinem letztem Atemzug lauter wurde habe ich gefunden. Seit jenem Septembermorgen ist es in meinem Bewusstsein verankert. Es spielt immer leise im Hintergrund.
Der Name des Liedes ist Vision.End.
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ROOFTOP - a short story
Historia Corta"Wie lange noch?" "sechs, vielleicht sieben Stunden" "Bist du dir sicher?" "Absolut." Ähnlichkeiten mit echten Personen zu den handelnden Charakteren in diesem Buch sind rein zufällig Wer meine Charaktere, das Storyboard o.ä klaut, bzw. weiterführt...