Kapitel 2

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Nach jener Nacht der Ungewissheit schwor ich mir, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Was hatten so ein paar Bilder schon zu bedeuten? Vielleicht waren es auch Kinder die einfach zur selben Zeit wie ich geboren wurden, die aber nicht zwingend die gleiche Mutter hatten. Denn meine Mom hatte nur mich und Maxime zur Welt gebracht. Und wenn ich sie fragen würde? Würde ich dann die ganze Portion Wahrheit erhalten? Die Nacht hatte ich mich von der linken, zur rechten Seite geschlagen, bekam keine ruhige Minute, da ich irgendwie das Gefühl nicht loswurde, dass dort doch etwas ist. Dass diese Menschen doch irgendeine Verbindung zu mir hatten. Vielleicht waren es tatsächlich Schwestern oder so-etwas. Ich musste es selbst herausfinden. 

So entschied mich mich am Morgen, bevor meine Eltern wieder heim kamen, nochmal Moms Schrank zu durchstöbern. Vielleicht gab es ja doch noch irgendwelche Informationen über diese Personen auf den Bildern. Ich suchte, ich kramte, ich fand! 

Im etwas staubigen, dritten Fach von unten, links, fand ich eine kleine Aktenmappe. Sie war verschlossen, das bedeutete, dass man einen Zahlencode eingeben musste. Na super! War ja klar, dass das Glück mir mal wieder zur Seite stand. Ich überlegte. Es waren nur 3 Zahlenraster. Ich probierte wild herum, fand aber die richtige Zusammenstellung nicht. Gekränkt trat ich gegen den Schrank, riss die Mappe heraus und nahm sie mit in mein Zimmer. An der rechten Seite ragte ein Blatt heraus. 

Mit etwas Fingerspitzengefühl gelang es mir, es herauszuziehen. Als ich erblickte, was dort auf dem Papier stand, reichte mir das an Beweis, dass sich in dieser Mappe mehr Infos über diese sechs Kinder befanden. Alphabetisch waren die Adressen der beschrieben Kinder untereinander aufgelistet. Um keinen Verdacht auszulösen, stellte ich die Mappe, brav wie ich war, zurück an die Stelle im Schrank, wo ich sie einst entfernt hatte und steckte das Fundblatt in meine Tasche. 

Ich setzte mich auf die Couch im Wohnzimmer und dachte nach, mit einer Tasse Zitronen-Ingwer-Tee - mit kalorienarmen Süßstoff - in der Hand. Wie sollte ich vorgehen? Was musste ich tun? Ich musste diese anderen Mädchen finden und hoffen, dass sie nicht in der Zwischenzeit (wie wir) dreimal umgezogen waren. Plötzlich zuckte ich zusammen. 

Nicht nur, weil ich mir die Zunge an dem heißen Wasser verbrannt hatte, nein! Sondern auch, weil mir ein Geistesblitz durch den Kopf schoss! Das war es! So musste ich es tun! Nur wie? Nur wann? Nur wo? Noch bevor ich die Idee ins kleinste Detail planen konnte, klingelte es an der Tür. Das Klingeln riss mich ruckartig aus meinen Träumen. Das mussten wohl Maxi und meine Eltern sein. Gerade jetzt mussten sie natürlich wiederkommen ... na toll! 

Mit einem aufgesetzten Lächeln, das gänzliche Freude ausstrahlen sollte, empfing ich meine Familie an der Haustüre. Und wie ich so über das Wort Familie nachdachte, wurde mir bewusst, dass dies vielleicht gar nicht meine Familie war. Und jedes ,,Hallo Mama", ,,Hallo Papa", ,,Hallo Bruderherz", erschien mir auf einmal so fremd, als hätte ich diese Worte noch nie zuvor in den Mund genommen.

Beim Mittagessen saßen wir alle Fünfe am Tisch. Unser überdimensional fetter Kater Fred hatte es sich auf meinem Schoß bequem gemacht. So ein Bluffer! Erst tat er so, als wäre er unschuldig und als bräuchte er nur etwas Zuwendung. Dann lag er faul auf deinem Schoß herum und tat als wenn er schliefe, damit du nu ja nicht aufstehst. Und schließlich starrte er gierig auf deinen vollen Teller, in der Hoffnung ein paar Fleischbrocken für sich erobern zu können. Aber diesen Traum musste er sich diesmal wohl aus dem Kopf schlagen. 

Während der Rest der Familie mir von dem gestrigen Ausflug erzählte (was ich ungefähr genauso spannend fand, wie die Tatsache, dass Rosen rot und Kartoffel braun sind) aß ich schlürfend meine Spaghetti Carbonara und bekleckerte meine frische gewaschene Bluse. "Ronni ist ein Baby, Ronni ist ein Baby", rief Maxi lachend und zeigte dabei mit seinem Finger auf meine Oberweite. Ich verdrehte die Augen. "Mensch Ronja, ess doch nicht immer so gierig, selbst dein Bruder hat ja mehr Tischmanieren als du!" Das war mein Vater! Ich seufzte. Es hieß eigentlich "iss"! Selbst nicht die Grammatik beherrschen können und dann an der Tochter rummeckern! Das war ja mal wieder typisch für ihn. 

"Ronja , zieh doch nicht so ein Gesicht. Man muss auch mal Kritik annehmen können!", sprach Mom, nahm einen Lappen und wischte über meine Bluse, sodass sich an der dreckigen Stelle ein riesiger Kranz aus Wasser zu bilden begann. Mir wurde das irgendwann zu blöd, weshalb ich aufstand und sprach: "Es gefiel mir einen Tag alleine zu sein. Besser als mit euch hier. Ich gehe!" Dann stapfte ich genervt hoch in mein Zimmer. 

Warum erschienen sie mir so fremd, warum? Sie hatten mir doch gar nichts getan. Ich war zu hart zu ihnen. Andererseits mussten sie mich nicht so blöd anmachen. Ich entschied mich, meinen eben ausgebrüteten Plan heute schon in die Tat umzusetzen und packte meine Tasche. 

Hinein kamen mein Portemonnaie, dass ich letzte Woche auf dem Trödelmarkt für wenig Geld erobert hatte, mein Regenschirm (man wusste ja nie, ob es vielleicht plötzlich anfangen könnte zu regnen), ein Block und ein Stift, sowie der Zettel mit den Adressen und anschließend meine Sonnenbrille. Mehr brauche ich nicht, sagte ich mir. Schließlich zog ich mir ordentliche Klamotten an, sonst würden alle Leute denken, ich käme direkt aus dem Obdachlosenheim. Dabei kam ich aus dem Irrenhaus. 

Ich flitze in den Flur, zog meine roten Chucks an und verließ kurz darauf, ohne ein Wort des Abschieds zu verlieren, das Haus. 

The six thoughts of my mindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt