Die bloße Vorstellung

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  Mina brauchte einen Moment, um sich aus der Starre zu lösen, die Jades bloße Anwesenheit ausgelöst hatte, doch dann rannte sie Luise sofort hinterher. Mit Mr Harrington konnte sie nicht mithalten, doch sie konnte ihm folgen, als sie Luise aus den Augen verloren hatte.
Was sie jedoch wunderte, Dawn und Jade waren weg. Nicht gegangen, nicht losgerannt, einfach weg.

Umso verwunderlicher fand Mina es, dass sie vor ihr da waren, als sie Luise fand, am Fluss an einem Baum zusammengesunken und zitternd. Mr Harrington stand schützend vor ihr und in einigem Abstand Dawn und Jade, die Hände zu Fäusten geballt starrten sie sich an. Mina hatte den Eindruck, als würde ein stummer Kampf zwischen ihnen geführt, in der Luft lag eine Spannung, die ihr die Kehle zuschnürte.
Mr Harrington winkte sie zu sich und während ihre Schritte ihr allesamt vorkamen, als bestünden ihre Schuhe aus Eisen, ging sie zu ihm und ließ sich neben Luise auf den Boden fallen, die das Gesicht hinter den Händen verbarg.

„Du kannst es einfach haben", sagte Dawn. „Du kannst einfach jetzt mit mir kommen, deine Strafe absitzen und dir endlich merken, dass wir die Regeln einfach befolgen. Mach es nicht noch schlimmer, als es ist."
Jade schnaubte. „Ich kann nicht mehr einfach zurück, ich weiß, dass ich verloren bin. Doch bei meinem Abgang nehm ich dieses Mädchen mit, das am Ende genauso so ängstlich ist wie alle anderen."
Luise schluchzte und Mina legte einen Arm um sie. Nicht einmal dagegen wehrte sie sich, im Gegenteil. Was war geschehen, bevor sie hier angekommen war?

Dawn schaute über die Schulter auf sie herunter. „Mädchen. Schließt die Augen. Denkt nicht einmal daran, sie zu öffnen, bevor ich es sage. Oder Arthur." Sie klang ernst, so ernst, dass Mina nicht einmal darüber nachdenken wollte, was sie nicht sehen würde.
Mr Harrington nickte und trat einen Schritt zurück, sodass er jetzt ganz dicht vor den Mädchen stand. Mina hatte Angst um ihn. Was konnte er als einfacher Mensch schon einem Totengott entgegensetzen?
Da war jedoch auch Dawn. Jade sah wiederum nicht aus, als hätte er Dawn irgendetwas entgegenzusetzen. Freilich konnte gerade bei übermenschlichen Wesen der äußerliche Eindruck täuschen.
Sie bricht ihm die Knochen wie Streichhölzer, sagte eine Stimme in ihrem Kopf und sie wusste überhaupt nicht, woher die kam. Bloße Einbildung, der Stress, redete sie sich ein und kniff die Augen zusammen, hielt Luise fester, die sich zitternd an sie drückte.

Mina fühlte sich unendlich hilflos, weil sie nicht sehen konnte, weil sie nur die Atemgeräusche von Mr Harrington hörte, Luises trockenes Schluchzen und die Schritte von Dawn und Jade, wie ihre Stiefel auf dem Kies knirschten.
Sie zwang sich, die Neugierde niederzukämpfen und die Augen geschlossen zu halten.
Dann veränderten sich die Geräusche und in ihrer bloßen Vorstellung war das, was gerade geschah, so furchtbar, dass sie gar nicht mehr sehen wollte. Zuerst atmete Mr Harrington schwer aus, dann wurden die Schritte schwerer, Holz knackte und ein Schrei ertönte, der nicht nach einem Menschen klang, nicht nach einem Tier, nicht nach irgendetwas, das Mina kannte. Es kam so unerwartet, dass sie zusammenzuckte und beinah die Augen geöffnet hatte, doch sie schlug sich die Hand vor die Augen.
Der nächste Schrei kam von einer ähnlichen Stimme und wurde begleitet von knirschendem Kies. Einer von beiden war zu Boden geworfen worden und Mina hoffte inständig, dass es Jade war. Sie wollte sich nicht einmal ausmalen, was geschah, wenn Dawn ihm unterlag.

Für einen Moment war es still, nur schwere, knurrende Atemzüge waren zu hören. Dann langsame Schritte, ein Keuchen und etwas, das wie ein Wort klang, allerdings aus keiner Sprache, die Mina auch nur je gehört hatte, und mit dieser unmenschlichen Stimme gesprochen.
Die Antwort darauf war ein tiefes, grollendes Knurren, das Mina die Nackenhärchen aufstellte.

Als nächstes sprach Mr Harrington, er sprach Latein in einer Art Singsang, sofort dachte Mina an eine Beschwörungsformel. Anfangs klang er unsicher und seine Stimme brüchig, doch er wurde immer fester und lauter. Was er sagte, verstand sie allerdings nicht. Das bisschen Schullatein half ihr da überhaupt nicht weiter.
Eine der unmenschlichen Stimmen stöhnte schmerzerfüllt, während die Atemzüge der anderen immer ruhiger wurden. Luises Schluchzen ebbte ab und ihre Atemzüge wurden ganz flach, als fürchtete sie, zu laut zu sein.
Mina konnte unmöglich sagen, wie lang Mr Harrington diese Formel sprach, sie erkannte nur, das sich Passagen wiederholten, dass er einige Worte und Sätze mit besonderer Betonung aussprach und dass er Ende auf die Knie fiel.

Dann war es still. Es war völlig Still, die Spannung war aus der Luft gewichen und doch wagte sie nicht, die Augen zu öffnen.
„Mina?" Eine kräftige Hand, an der Kieselsteinchen hingen, legte sich auf ihre Schulter und sie fuhr zusammen. Es war Dawns Stimme. Dawns ganz normale, etwas derbe Stimme und sie klang besorgt. „Es ist vorbei."
Als Mina die Augen öffnete, sah sie zuerst Dawns Gesicht voller Schmutz und Kratzer, in ihren krausen Locken hatten sich Blätter verfangen und in ihren Augen erkannte Mina letzte Reste von Dingen, die sie sich nicht vorstellen konnte und auch nicht wollte.
Sie sah auch Mr Harrington, der sich aufrichtete und die Hosenbeine abklopfte, die Brille auf der Nase zurechtrückte und lächelte.
Luise neben ihr ließ von ihr ab und hielt sich den Kopf, Tränen in den Augen und stärker zitternd als zuvor.
Ansonsten sah sie nichts. Keinen Hinweis darauf, dass dieser andere Sensenmann namens Jade je hier gewesen war.  

Der Sensenmann im SpiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt