Kapitel 2: Die Beerdigung

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Gegenwart:

Schwarz, wohin man sah. Es war eine schreckliche Farbe, oder? Düster und traurig. Vier Jahre lang war ich nur von der Farbe Weiß umgeben gewesen, sodass ich eine so finstere Farbe nicht mehr gewöhnt war. Ich mochte sie nicht, doch noch weniger mochte ich diesen Ort, wo eine Kälte herrschte, die nichts mit dem Klima zu tun hatte. Draußen ertönten schwere Glockenschläge, als der offizielle Beginn der Trauerfeier eingeleitet wurde. Ich fröstelte, obwohl es durch die vielen Menschen in diesem Raum viel zu warm wurde. Innerlich war ich eingefroren. Am liebsten hätte ich mich nie wieder bewegt, aber ich musste stark sein. Das hatte ich mir damals geschworen... Und ich hatte es ihr versprochen. Wenn ich das brechen würde, wäre ich wieder die schlechte Freundin, die ich nicht mehr hatte sein wollen. Angestrengt hielt ich meinen Blick nach unten gerichtet, damit niemand die Tränen in meinen Augen sah, obwohl aus jeder Ecke ein unterdrücktes Schluchzen an mein Ohr drang. Ich hielt es hier drin nicht mehr aus. Es war, als würde man ersticken. Ich musste nach draußen!

„Wir alle werden sie nie vergessen. Sie war ein großartiges Mädchen, das alle immer zum Lachen brachte, manchmal sogar unbewusst. Sie war zwar manchmal ziemlich nervig, aber ich hatte sie trotzdem lieb. Ich hoffe, dass sie da, wo sie jetzt ist, genauso lachen kann, wie sie es hier so gern getan hat." Ich hob meinen Kopf und sah Leon an. Ein schlaksiger, fünfzehnjähriger Junge, der dieselben blonden Haare und grünen Augen wie Charlotte hatte. Allein ihn anzusehen war schmerzhaft. Obwohl sie drei Jahre trennten, sah er genau wie ihr Ebenbild aus, was den Schmerz in mir nur verstärkte. Nie wieder würde ich richtig mit ihm sprechen können. Und mit ihr erst recht nicht...

Seine Worte klangen falsch, wenn man ihn und Charlotte gut genug kannte; ihre ständigen Streitereien waren sicherlich kein Grund zum Lachen gewesen. Er hatte immer wie ein Erwachsener wirken wollen, aber Charlotte hatte ihn lediglich wie ein Kind behandelt. Er hatte mal für mich geschwärmt, das wusste ich. Charlotte hatte immer darauf rumgeritten und gesagt, dass ich mich ja nicht an ihm vergreifen sollte. Natürlich nur im Scherz, denn sie wusste, dass mein Herz für jemand anderen schlug. Er war auch unter den Trauergästen, denn er hatte Charlotte und mich in der Klinik kennengelernt. Leon hatte mir seine Liebe gestehen wollen, wenn ich entlassen werde, aber dann passierte es. Und nun wussten wir beide, dass es niemals funktionieren würde – vor allem, weil er vier Jahre jünger als ich war. Während er da oben stand und um Worte rang, musterte ich ihn. Er war ziemlich erwachsen geworden. Plötzlich hatte er einen Schuss in die Höhe gemacht, weshalb er mich nun um einen Kopf überragte, obwohl er bis vor einem halben Jahr noch bis zu meinem Hals reichte. Sein Gesicht war schmaler und kantiger, zudem berührten seine hellblonden Haarspitzen seine Augenbrauen, obwohl er sie doch sonst immer kurz getragen hatte. Nur sein Körper war noch zu schlaksig, um ihn als Mann sehen zu können. Als seine Augen plötzlich zu mir wanderten, erwiderte ich für einen Moment seinen traurigen Blick, der mir so viel vermitteln wollte, doch ich schaute schnell weg. Mit ihm konnte ich mich jetzt einfach noch nicht befassen.

Mein Blick fiel stattdessen auf das gerahmte Bild, welches neben dem geschlossenen Kirschholzsarg aufgestellt war. Natürlich war es ein Bild von Charlotte. Ich kannte es gut, denn ich war diejenige gewesen, die es bei einem ihrer Besuche in der Klinik von ihr gemacht hatte. Damals, als sie herausfand, dass ich entlassen werden würde. Dass ich geheilt war... So glücklich war sie lange nicht mehr gewesen. Ihre Augen waren strahlend und leuchteten wie die einer Katze, als das helle Sonnenlicht auf ihre Iriden traf. Und ihr Lächeln war immer wunderschön. Insgesamt war Charlotte ein wunderschönes Mädchen gewesen: ehrlich, herzensgut, loyal und doch konnte sie anderen ihre Meinung ernst übermitteln. Das hatte ich so an ihr geliebt. Wenn ich nur an den Moment zurückdachte, als sie mir gesagt hatte, ich würde niemals eine Zukunft haben, wenn ich mich nicht veränderte. Sie hatte so recht gehabt. Nur für sie hatte ich mich angestrengt – und doch saß ich nun hier allein. Ich war eine schlechte Freundin gewesen, schließlich hatte ich nicht bemerkt, dass sie etwas vor mir verbarg. Ich hatte lediglich auf meine Probleme geachtet. Ihr Gesicht verschwamm vor meinen Augen, und ich merkte, dass ich weinte. Heiß tropften meine Tränen auf meine zu Fäusten geballten Hände hinab. Nicht weinen, sagte ich mir selbst. Du hast ihr ein Versprechen gegeben! Sie hatte nicht gewollt, dass ich um sie weine, denn selbst in ihren letzten Momenten hatte sie ein Lächeln auf den Lippen getragen... Und darüber hinaus. Ihr Gesicht war sogar im Tod noch fröhlich gewesen. Damit versuchte ich mich zu trösten; dass sie glücklich gestorben war, aber ich hatte ihr nicht geglaubt. Jeder hatte Angst vor dem Tod, doch sie hatte es überspielt, und ich hatte es zugelassen, damit ich mit meinem Schmerz zurechtkam.

Endless - Vom Tode geliebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt