Kapitel 3: Fragwürdige Freundschaft

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Vor zwei Jahren:

„Jocelyn, kannst du mich hören?" Langsam lichtete sich der Nebel um mich herum. Die Dunkelheit, die mich bis jetzt umhüllt hatte, verschwand und setzte mich dem schrecklich grellen Licht der Realität aus. Ich wollte nicht aufwachen. Wenn ich meine Augen öffnete, würde ich mich all meinen Problemen stellen müssen. In meinen Träumen konnte ich mir oft ausmalen, ein ganz normales Mädchen zu sein. ‚Öffne deine Augen, Joy. Um dir helfen zu können, musst du schließlich leben.' Wieder hörte ich diese Stimme in meinem Kopf. All die Erinnerungen an den Moment vor meiner Ohnmacht kehrten schlagartig zurück. Ich fragte die Stimme, warum sie mich nicht einfach allein lassen konnte und sich ihren Rat sonst wohin schob. Wieso mischte sie sich ein? ‚Weil du mich darum gebeten hast', sagte die Stimme lachend. Konnte sie meine Gedanken lesen? Aber wer immer es auch war... Er oder sie hatte recht. Ich hatte die Stimme um Hilfe gebeten. Dann würde ich wohl wirklich aufwachen müssen.

„Jocelyn, oh bitte, öffne doch deine Augen." Die Stimme, die mich rief, klang nun hysterisch. Entfernt spürte ich eine warme, aber verschwitzte Hand auf meiner. Endlich öffnete ich heftig blinzelnd die Augen. Mein Blick fokussierte sich nur langsam, aber dann erkannte ich die sterile Umgebung. Neben mir saß meine Mutter, deren Wimperntusche durch zahlreiche Tränen verlaufen war. Als sie merkte, dass ich wach war, gab sie einen erstickten Laut von sich und schlug ihre Hände vors Gesicht. „Oh, Schätzchen! Endlich bist du aufgewacht. Ich dachte, ich hätte dich verloren. Da war so viel Blut und..." – Sie hielt inne und schien sich zu sammeln – „du wolltest deine Augen einfach nicht mehr öffnen. Was hast du dir nur dabei gedacht?!" Nun hatte sie ihre Stimme erhoben. Das tat sie fast nie, aber sie schenkte mir sowieso nicht genug Aufmerksamkeit, um mich anzuschreien. Es war ein Wunder, dass sie hier war. „Mutter, was machst du denn hier?" Meine Stimme klang kratzig und rau, als hätte ich sie wochenlang nicht benutzt. Als sie mich sprechen hörte, wurden ihre harten Züge weicher und sie strich sich mit einem ihrer perfekt manikürten Fingernägel das lockige Haar aus dem Gesicht. Im weißen Licht der Neonlampen hatten sie einen blassen Rotton angenommen, obwohl sie eigentlich eher braun waren. Ihre grünen Augen glänzten feucht. „Was ich hier mache? Die Frage ist eher, was DU hier machst. Eben noch habe ich im Büro gestanden und plötzlich erhalte ich den Anruf, dass du versucht hättest, dir die Pulsadern aufzuschneiden. Kind, was soll ich nur mit dir machen? Warum machst du es mir so schwer?!" Da konnte ich nichts erwidern. Sie hatte vollkommen recht. Ich bereitete allen nur Sorgen und Probleme.

Mit einem Stöhnen brachte ich mich in eine sitzende Position. „Mutter, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wollte mich nicht umbringen." Es hätte sowieso keinen Sinn. „Ich hatte mich mit Charlotte gestritten und fürchtete, sie würde mich allein hier zurücklassen. Dieser Ort ist schrecklich! Ich möchte so gern wieder nach Hause kommen." Mutter fuhr sich erschöpft übers Gesicht und erhob sich dann. Ihre Absatzschuhe klackerten laut, als sie das Fenster öffnete, um die kalte Winterluft reinzulassen. Dann drückte sie den Schwesternknopf über meinem Bett. Ich war also tatsächlich auf der Krankenstation. „Aber du weißt, dass du das so nicht kannst, Liebes. Joy, du musst wieder essen, dann kannst du zu uns kommen. Sky und Evangeline machen sich große Sorgen um dich. Und ich ebenfalls. Was glaubst du, wie ich mich fühle, wenn ich mein jüngstes Kind so sehen muss?" Ich senkte beschämt den Blick, wobei er an dem dicken Verband an meinem Arm hängenblieb. Mir war bewusst, dass ich keine tiefen Schnittwunden vorfinden würde, wenn ich ihn abwickelte. Warum war ich nur so ein Freak? „Es tut mir leid", sagte ich lediglich. „Ich möchte doch auch nach Hause. Wirklich! Aber Mutter..." Eigentlich sollte ich das nicht sagen, denn ich hatte das Gefühl, unser sowieso schon angespanntes Verhältnis dadurch nur zu verschlimmern, aber ich wollte nicht auch noch sie anlügen. Ich atmete tief ein und sah ihr dann tief in die Augen. „Ich fühle mich einsam. Immer ist dir die Arbeit wichtiger und Sky und Evie bekommen deine restliche Aufmerksamkeit. Das ist nicht fair! Ich habe das Gefühl, dass du mich schon längst aufgegeben hast und ich gar nicht mehr deine Tochter bin." Das schien tief zu sitzen, denn meine Mutter fasste sich bestürzt an die Brust. Dass dadurch ihre makellose Bluse verrutschte, schien sie ausnahmsweise einmal nicht zu interessieren. „Wie kannst du sowas nur denken?" Schmerz stand in ihren Augen, aber auch ich war verletzt.

Endless - Vom Tode geliebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt