Kapitel 4: Nächtliche Begegnungen

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Gegenwart:

Mit trüben Augen starrte ich in die Ferne. Seit der Beerdigung waren einige Tage vergangen, aber ich konnte das Bild von Charlotte in ihrem dunklen Sarg einfach nicht aus meinem Kopf verbannen. Wie sie dort so friedlich gelegen hatte, die Hände auf ihrem Bauch gefaltet, mit einigen Blumen zwischen den blassen Händen. Es brachte mich noch immer zum Weinen. Wie hatten sie ihren Körper nur so ausstellen können? Fühlten sie sich dann besser? Weil sie sahen, dass ihr vom Krebs zerstörter Körper mit Hilfe der Leute vom Bestattungsinstitut wieder wie früher aussah? Dass ihre eingefallenen Wangen voller und ebenmäßiger aussahen, dass ihr Gesicht ganz entspannt war und ihr kahler Kopf unter einer Perücke versteckt war? Schöne Kleider und Schminke machten sie zur perfekten Puppe, aber sie war keine Puppe! Sie war meine beste Freundin, die mir so wahnsinnig fehlte, dass ich jede Nacht Albträume bekam. ‚Eines Tages wird alles wieder gut. Sie ist nun an einem wunderschönen Ort, wo ihr kein Schmerz widerfahren wird. Glaub mir, sie ist sehr glücklich dort.' Als die nur allzu bekannte Stimme nach längerer Zeit wieder mit mir sprach, zuckte ich nicht zusammen. Es war mir klar, dass sie wiederkehrte, sobald es mir wieder schlechter ging. „Woher willst du das denn wissen? Warst du denn schon einmal dort? Wieso sprichst du überhaupt wieder mit mir? Bedeutet das, dass ich wieder dem Wahnsinn verfalle? Werde ich nun endlich erlöst werden?" Meine Worte wurden in die Weite hinausgetragen. Keiner war in der Nähe; nur ich und der zugefrorene See, den Charlotte und ich im Sommer gern besucht hatten, um unsere Füße darin baumeln zu lassen. Nun würde sie nie wieder das erfrischende Gefühl erleben, ihre Füße ins kühle Nass zu tun. Obwohl es bald Frühling werden würde, schien es jeden Tag kälter zu werden. Vielleicht wurde aber auch einfach ich kälter.

Die Stimme schwieg eine Weile, als würde sie ernsthaft überlegen, was sie zu mir sagen konnte. Das hatte sie früher doch auch nicht interessiert. ‚Du bist nicht wahnsinnig, Joy. Du bist es nie gewesen. Hör auf, dich für Dinge verantwortlich zu fühlen, die nicht deine Schuld sind. Sie würde wollen, dass du dein Leben so fröhlich wie möglich weiterlebst, denkst du nicht? Dich so zu sehen, würde sie unglücklich machen.' Ich schnaubte und vergrub mein eiskaltes Gesicht in den behandschuhten Händen. „Du hast sie kaum gekannt, also tu nicht so, als wüsstest du, was sie wollte! Lass mich doch einfach in Ruhe. Auf deine Anwesenheit in meinem Kopf kann ich verzichten. Du hast genug Schaden angerichtet, findest du nicht? Ich habe alles verloren, also kann es ja nicht schlimmer werden, oder?" Ich fühlte etwas, was sich wie ein leichtes Tätscheln meiner Wange anfühlte. Für einen Moment schien sie warm zu werden. ‚Du bist es, die sich selbst den Schaden antut. Im Moment bin ich nur in deinem Kopf, das heißt, ich kann all deine Erinnerungen an sie sehen. So ist es, als hätte ich sie genauso lang gekannt wie du. Ich würde dir nie wehtun, Joy. Ich will nur, dass du glücklich bist.' Rasselnd atmete ich ein, sah zu, wie mein Atem zu einer weißen Wolke wurde und hob dann meinen Kopf. Das gefrorene Wasser vor mir glitzerte in der schwachen Nachmittagssonne und blendete mich. Während ich stumm auf die dicke Schneedecke auf dem See starrte, erinnerte ich mich an den Tag, als ich mit Charlotte hier gespielt hatte. Damals hatte der See ganz ähnlich ausgesehen. Wir waren ungefähr zehn gewesen und hatten eine Wette geschlossen, dass ich es schaffen sollte, einmal über den See und zurück zu laufen. Ich wusste, dass es dumm war, denn man wusste nie, wie dick das Eis wirklich war, aber ich wollte nicht als Angsthase dastehen, also tat ich es. Ich war bis zur Hälfte des Sees gekommen... Dann war ich eingebrochen. Noch immer konnte ich das eiskalte Wasser spüren, welches sich wie tausend Nadelstiche angefühlt hatte, während meine Kleidung sich vollgesogen und mich immer tiefer gezogen hatte. Meine Haut war in Sekundenschnelle taub geworden, sodass ich das Stechen nicht mehr wahrgenommen hatte. Wasser war unaufhörlich in meine Lunge geströmt, als ich um Hilfe schreien wollte. Mit ausgestreckter Hand hatte ich verzweifelt zu der Einbruchsstelle geschaut, doch ich konnte es nicht erreichen. Ich wäre damals fast ertrunken, hatte schon gespürt, wie meine Lunge sich schmerzhaft zusammengezogen hatte, weil ich keine Luft mehr hatte, aber kurz bevor ich das Bewusstsein verloren hatte, war es gewesen, als würde eine unsichtbare Kraft mich zur Oberfläche ziehen. Ich hatte Charlottes Schreie gehört, aber sie war es nicht gewesen. Noch heute fragte ich mich, wer oder was mich damals gerettet hatte. Wäre ich wirklich gestorben? Wer weiß... Aber seitdem hatte ich diesen Ort nur mit Vorsicht besucht. Diese Gewässer waren gefährlich, und das wusste ich nun. Niemals wieder würde ich mich auf sowas Dummes einlassen. Die Sekunden, bevor dein Leben endete, waren schlimm, aber auch friedlich. Es war, als würde eine Last von dir abfallen, dennoch klammerte man sich mit letzter Kraft an sein Leben, denn man hatte nur eines, und das sollte man nicht verschwenden. Dank Charlotte hatte ich das endlich verstanden.

Endless - Vom Tode geliebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt