3. Kapitel

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Der Geist streckte seine Hand nach mir aus. Ich schrie. Der Geist wollte mich mitnehmen! Er wollte mich töten und foltern! Er wollte mir die Kehle durchtrennen! Wahrscheinlich steckte unter seinem Mantel bereits ein Messer oder eine Kettensäge, um mich zu töten. Er kam aus Chadland... Mir wurde schlecht.
"Jo!", rief der Geist auf einmal.
Ich atmete kaum.
Er konnte sprechen! Das wurde alles immer absurder! Befand ich mich in einem realen Albtraum? War das hier gar nicht die Wirklichkeit? War der Geist eine Illusion? Was ging hier vor sich?
Ich schrie weiter, bis der Geist mich mit seinen kalten langen Fingern am Arm packte und mich schüttelte. Ich keuchte. Es fühlte sich an, als würde mein Arm von dieser Hand durchtrennt werden. Als würde er einfrieren und nie mehr wieder lebendig werden...
Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi und ich betete im Stillen, lebendig aus dieser Situation rauszukommen.
"Jo!"
Ich blinzelte verwundert. Die Stimme kam mir bekannt vor... Oder war das bloß eine Täuschung, und unter dem Geistkleid befand sich ein Lautsprecher aus dem mir bekannte Stimmen sprachen? Plötzlich wurde der Lichtschalter umgelegt, es wurde schlagartig hell. Vor mir stand... Mom!

"Mom?", keuchte ich. Eine Last fiel von mir ab. Gott sei Dank war es nur meine Mutter gewesen. "Weißt du eigentlich, wie doll du mich eben erschreckt hast? Ich dachte, du wärst ein Geist aus Chadland, der mich töten will!"
"Endschuldige, Jo. Das wollte ich nicht." Mom machte ein betroffenes Gesicht und nahm mich in den Arm. Ich wartete insgeheim auf den Moment, in dem Mom sich die Maske vom Gesicht riss und sich zeigte, dass sie doch ein Geist war. Es wäre zwar gut möglich gewesen, passierte zum Glück dann aber doch nicht. "Ich werde dann mal wieder ins Bett gehen - Und du auch!"
Ich nickte stumm. Nichts lieber als das...

Die schwachen Sonnenstrahlen weckten mich am Morgen, des 31. Oktobers.
Ich stöhnte leise. Heute war Halloween.
Der Tag, vor dem ich am liebsten schreiend weglaufen würde. Der Tag, der mein Leben verändern würde. Der Tag, vor dem ich mich so sehr fürchtete. Der Tag, den jeder hasste. Am liebsten würde ich diesen Tag des Jahres abschaffen. Oder niemals aufstehen und den Tag heute im Bett verbringen. Ich dachte an die schwarzen Männer. Nein, sie würden mich auch hier heimsuchen. Es hatte also keinerlei Sinn, sich vor ihnen zu verstecken. Ich seufzte. Es war praktisch hoffnungslos. Heute konnte der Tag sein, an dem ich starb. Man sagte hier zwar, man würde gefoltert werden, aber es gab keinen Beweis dafür, dass nicht auch mal jemand getötet worden war. Selbst wenn, die Bewohner Briscoles hätten kein Wort darüber verloren, wegen der Strafe der schwarzen Männer. Diese musste so hoch sein, dass alle Bewohner Angst davor hatten. Nicht mal in Kreisen der Familie wurde von Chadland erzählt. Jeder hatte seine persönlichen Erinnerungen an diese grausame Woche in Chadland.

Lissy schlief noch tief und fest. Ich sah ihr einen Augenblick dabei zu. Seelenruhig hebte und senkte sich ihre Brust. Sie gab regelmäßige Atemzüge von sich.
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Ich berührte es. Mein Gesicht war tränennass! Vorsichtig trocknete ich es mit meinen Ärmeln ab. Ich musste wohl im Schlaf geweint haben...

Der Sturm von gestern Nacht hatte sich gelegt. Im Moment schien sogar ein bisschen die Sonne. Trotzdem war der Himmel wolkenverhangen. Ich schluckte. Es hätte so ein schöner Tag sein können... Doch durch Halloween war alles zerstört!

Ich ging nach unten auf die Veranda vor unserem Haus. Ich liebte die alte, knorrige Veranda. Die weiße Farbe, in der sie lackiert war, blätterte bereits an manchen Stellen ab. Ich lehnte mich an das Geländer und stützte meine Ellenbogen darauf auf. Nur im Pyjama war es in den frühen herbstlichen Morgenstunden ziemlich kalt. Ich sah zu Mrs Bensons Haus hinüber. Mrs Benson war schon fünfundsechzig und lebte uns gegenüber, so lange ich denken konnte.
Früher waren wir öfters zum Kaffeetrinken bei ihr und ich habe dann in ihrem Garten gespielt. Bei dem Gedanken daran muss ich unwillkürlich lächeln. Damals war Lissy noch nicht geboren. Mom hatte mir zu dieser Zeit immer abends etwas vorgelesen. Meistens fiel ihre Wahl auf mein damaliges Lieblingsbuch "Kleiner Bär". Dieses Buch kannte ich auch jetzt noch in- und auswendig. Es handelte von einem kleinen Bären, der die Welt endtdecken will. Auf seiner Reise erinnert er sich an seine Eltern und seine Schwester und bemerkt dann, dass es Zuhause doch am schönsten ist und kehrt zurück.

Es war neblig an diesem Morgen. Sehr neblig. Man konnte kaum mehr als zehn Meter weit sehen.
Ein Schauer kroch mir den Rücken hinunter. Dieser Nebel machte Halloween nun auch nicht gerade viel besser... Im Gegenteil.
Ich fröstelte und wollte gerade umkehren und ins Haus gehen, da sah ich eine Gestalt. Sie befand sich direkt im Nebel und war kaum zu sehen. Einzig und allein eine schwarze Silhouette hob sich vom weißen Nebel ab. Der weiße Nebel wunderbar...
Die Gestalt sah ganz normal aus, doch in der linken Hand hielt sie etwas. Es sah unnormal aus, nicht zum Körper passend. Langsam zogen die Nebelschwaden an der Gestalt vorbei und ein Mensch wurde sichtbar. Jetzt erkannte ich, was er in der Hand hielt. Ich erstarrte und wurde leichenblass. Es war eine Kettensäge!
Ich schnappte nach Luft. Ein heiseres Lachen erklang. Die Gestalt kam langsam die Straße hinunter. In der Hand schwenkte sie die Kettensäge. Sie war nur noch etwa zwanzig Meter von mir entfernt. Mein Herz setzte für einen Moment aus, um dann doppelt so schnell weiterzuschlagen. Ich wirbelte herum. Mom, Dad, Lissy! Irgendwer musste doch hier sein, der mir helfen konnte! Doch Fehlanzeige. Kein Mensch weit und breit. Nicht einmal die alte Mrs Benson war zu sehen. Ich war vollkommen allein. Vollkommen auf mich gestellt. Egal was ich tun würde, entweder würde es richtig oder falsch sein. Ich musste mich entscheiden, und das möglichst schnell. Die Sekunden verstrichen und der Abstand zwischen mir und dem Typ mit der Kettensäge wurde immer kleiner. Vorsichtshalber zwickte ich mich in den Arm. Nein, diesmal war es weder ein Traum, noch Mom. Es war real und ich steckte in einer verdammt beschissenen Lage.Was sollte ich tun?! Weglaufen? Schreien? Ihm entgegen rennen und kämpfen? Letzteres schon mal nicht. Denn erstens hatte ich gar nicht so viel Kraft und zweitens würde ich so eh sterben. Nur noch zehn Meter zwischen uns. Mein Hirn lief auf Hochtouren. Was zur Hölle sollte ich tun? Lauf!, das war das Erstbeste, was mir in den Sinn kam, also rannte ich los. Und zwar um mein Leben.

Ich preschte die Straße hinunter. Der Mensch mit der Säge rannte hinter mir her. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wie nah oder fern er mir war, erkannte ich, dass es ein Clown war. Aber kein lustiger, wie im Zirkus, nein, es war ein Zombieclown!

Halloween - Das Fest des GrauensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt