Prolog

65 2 0
                                    

Erleichtert richtete Christian seinen schmerzenden Rücken auf, als er aus der Ferne die Dorfglocke hörte, ein Klang so vertraut wie herbeigesehnt, denn er kündigte den baldigen Sonnenuntergang und damit das Ende der Feldarbeit an.

Er blickte sich um und sah in einiger Entfernung die zierliche Gestalt seiner Mutter, die sich ebenfalls aufrichtete, sich Strähnen ihres dunkelbraunen, fast schwarzen Haares, die sich im Laufe des Nachmittags aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst hatten, hinter das Ohr strich und den Rock ihres einfachen Kleides glattzog. Ihre Blicke begegneten sich und seine Muter lächelte ihn mit ihren warmen, braunen Augen, die den seinen so ähnlich waren, liebevoll an. Mit einem Nicken gab sie ihm die Erlaubnis, seine Arbeit niederzulegen. Freudig wollte Christian schon alles stehen und liegen lassen und sich auf den Weg zurück in sein Dorf machen, als ihn die schneidende Stimme seines Vaters vom anderen Ende des Feldes aufhielt: „Wo willst du schon wieder hin, du nichtsnutziger Bengel?"

Wie immer ging ihm die Stimme seines Vaters durch und durch. Zu oft war diese Stimme in der Vergangenheit von der einen oder anderen schallenden Ohrfeige begleitet gewesen. Ängstlich drehte Christian sich zu seinem Vater um, den Kopf unwillkürlich etwas ein- und die Schultern hochgezogen. Sein Vater, in schmutziger Hose und Lederweste, mit verschwitztem, bereits etwas schütterem Haar und stechenden, hellblauen Augen, sah missbilligend zu ihm herüber, während er breitbeinig die beiden Pferde, die die ganze Zeit über den Pflug über das Feld gezogen hatten, am Zügel hielt.

Hilfesuchend wandte sich Christian an seine Mutter, die sogleich versuchte, beschwichtigend auf ihren Mann einzuwirken.

„Aber Jacob, hast du denn die Glocke nicht gehört? Wir müssen doch sowieso zurück ins Dorf. Und Christian hat uns den ganzen Tag über fleißig geholfen. Ich finde, dass er es sich verdient hat, vor dem Abendessen noch ein bisschen mit seinen Freunden zu spielen."

Seine Mutter hielt den Blicken ihres Mannes offen und furchtlos stand und Christian bewunderte seine Mutter dafür. Sein strenger Vater starrte mit noch immer missbilligender Miene zurück und Christian wollte schon die Hoffnung auf einen frühen Feierabend aufgeben, doch dann zuckte sein Vater mit den Achseln.

„Dann geh", meinte er. „Aber mach dich wenigstens nützlich und nimm die Werkzeuge mit. Und dass du die Geräte ja ordentlich aufräumst, bevor du zu deinen Freunden gehst!"

Erleichtert überhörte Christian die Art und Weise, wie sein Vater das Wort ‚Freunde' betonte, überhörte auch dessen gemurmeltes „Taugenichtse, allesamt" und beeilte sich stattdessen, die wenigen Gerätschaften, die sie mit aufs Feld gebracht hatten – eine Harke, eine Schaufel, einen Rechen und einen großen, inzwischen leeren Korb mit Saatgut – einzusammeln und mit sich zu nehmen, bevor er mit schnellen Schritten in Richtung ihres Dorfes lief.

Schon bald begrüßte ihn der vertraute Anblick der fünfundzwanzig Hütten aus Lehm, Ziegeln und Reetdächern, zum Teil Wohnhäuser, zum Teil Ställe und Schuppen für die Nutztiere und das Gerät, die sich kreisförmig um einen großen Platz in der Mitte, dem Dorfplatz, gruppierten. Das Dorf selbst lag in einem kleinen Tal, auf drei Seiten umgeben von sanften Hügeln und Feldern. Im Süden des Dorfes lag schrofferes Gelände mit einem weitläufigen Wald, der das Dorf mit Holz und Jagdwild versorgte. Er sah, dass auf dem großen Dorfplatz bereits geschäftiges Treiben herrschte. Eine große Feuerstelle, aus der Rauch zu ihm herüberwehte, bildete die Mitte des Platzes. Um diese Feuerstelle herum gruppierten sich verschiedene kleine Kochstellen. Männer, die von der Jagd gekommen waren, beschäftigen sich bereits damit, das erbeutete Wild zu häuten und zu zerlegen, während Frauen sich Fleischstücke aussuchten, die sie auf gehärtete Holzstäbe spießten und anfingen, diese über einigen der Kochfeuer zu braten. Aus allen Richtungen kamen weitere Dorfbewohner zum Dorfplatz, um das tägliche Abendessen vorzubereiten, zu dem jeder durch seine erwirtschafteten Erzeugnisse seinen Teil beitrug. Einige Frauen, zu denen sich auch bald seine Mutter gesellen würde, putzten Gemüse oder kneteten Teig, der anschließend in steinernen Backöfen zu Brot gebacken werden würde. Kinder wiederum schleppten Feuerholz herbei, mit dem sie die Kochfeuer speisten, ebenso das große Feuer in der Mitte des Platzes. Schon bald würde das gesamte Dorf um dieses Feuer herumsitzen und gemeinsam essen, musizieren und sich Geschichten erzählen.

Leseprobe - Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt