Kapitel 1

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- 10 Jahre später -

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ Christian sich in das weiche, duftende Heu fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute zur Decke des großen Schuppens auf, der eigentlich der Aufbewahrung von allerlei Gerätschaften – Pflüge und Kutschen, Sättel und Zaumzeug, Werkzeug, Futtermittel und Saatgut – diente, aber vor einigen Jahren schon zu seinem geheimen Zufluchtsort geworden war.

Er kam gerne hierher, wann immer er konnte.

Der Schuppen hatte einen eingezogenen Dachboden, auf dem große Mengen getrockneten Heus lagerten. Auch die Heilkräuter des alten Abbott hingen zum Trocknen von der Decke. Gemeinsam mit dem Heu verströmten sie einen angenehmen, beruhigenden Duft. Die Wände des Schuppens bestanden grob gehauenen Holzbrettern, mit vielen Ritzen und Spalten, durch die Licht in den Schuppen eindringen konnte, so dass es tagsüber im Inneren immer hell genug war, um alles gut erkennen zu können.

Wann immer er hier war, kletterte er die lange Leiter auf den Heuboden hinauf. In der Einsamkeit des Schuppens mit seinem sanften, dämmrigen Licht konnte er in Ruhe nachdenken und der Welt draußen für eine Weile entfliehen.

Er würde niemals vergessen, wann er sich das erste Mal in diesen Schuppen geflüchtet hatte. Die Nacht, in der seine Mutter gestorben war, würde ihm immer unauslöschlich im Gedächtnis bleiben. Blind vor Tränen und Verzweiflung hatte er es zu Hause nicht mehr ausgehalten und war hinaus in die dunkle, stürmische Nacht gerannt. Warum er hierher gerannt war, wusste er nicht mehr. Er wusste nur noch, dass in jener Nacht ein Unwetter mit Regen, Blitz und Donner getobt hatte. Der Sturm hatte ihm die Haare zerzaust und an seinen Kleidern gerissen und ohne nachzudenken war er einfach dorthin gerannt, wohin ihn seine Füße getragen hatten. Der Schuppen hatte ihm Schutz vor Wind und Wetter geboten. Er hatte die Tür aufgestoßen und sich in der Dunkelheit seinen Weg zu der Leiter ertastet, die auf den Heuboden führte, war die Leiter schließlich hinaufgeklettert und hatte sich in dem duftenden Heu vergraben. Er hatte dem Sturm gelauscht, der am Dach des Schuppens gerüttelt hatte. Er hatte dem Prasseln des Regens zugehört, die Sekunden zwischen Blitz und Donner gezählt und sich dabei so einsam gefühlt, wie noch nie in seinem Leben. In diesem Gefühl der Einsamkeit hatte er endlich seiner Verzweiflung und vor allem seiner Trauer freien Lauf lassen können.

Seine Mutter war bei der Geburt seines kleinen Bruders gestorben, auf den er sich zuvor so sehr gefreut hatte. Doch wie er später erfahren hatte, hatte das Baby sich nicht gedreht und seine Mutter bei der Geburt zu viel Blut verloren. So hatte es ihm der alte Abbott erklärt. Das Baby hatte die Geburt ebenfalls nicht überlebt. Und so hatten sie seine Mutter nur einen Tag später, zusammen mit seinem kleinen Bruder, in das frisch ausgehobene Grab auf dem kleinen Dorffriedhof gelegt. Er würde nie vergessen, wie er sich gefühlt hatte, als die ersten Brocken dunkler, feuchter Erde auf die in weiße Leinen eingeschlagenen Körper seiner Mutter und seines kleinen Bruders gefallen waren. Noch heute träumte er manchmal davon und fühlte genau dieselbe verzweifelte Leere wie damals.

Seit diesem Tag war er immer wieder hierher in diesen Schuppen gekommen, bis zum heutigen Tag. Hierher zog er sich zurück, wenn ihm die täglichen Pflichten zu viel und die Dorfgemeinschaft zu eng wurden, wenn er in Ruhe nachdenken wollte oder um seinem Vater zu entkommen, wenn dieser wieder einmal zu tief in den Wein- oder Bierkrug geschaut hatte.

Sein Vater hatte den Tod seiner Mutter nie verkraftet. Schon kurz nach der Beerdigung hatte er angefangen, vermehrt dem Alkohol zuzusprechen, zuerst nur an den Abenden, bald aber auch bereits am Tage. Wann immer er betrunken war, war sein Vater noch unbeherrschter, noch jähzorniger als im nüchternen Zustand. Hatte Christian bereits zu Lebzeiten seiner Mutter immer wieder den Unmut und gelegentlich die strafende Hand seines Vaters zu spüren bekommen, hatte dieser nach ihrem Tod mehr und mehr seine ganze Trauer und seine ganze Wut an ihm ausgelassen.

Leseprobe - Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt