shaking shoulders

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Der erste Schnee des Jahres lag auf der Straße. Die Temperaturen fielen bereits in den Minusbereich und selbst in meinem Zimmer schien es nicht wärmer zu sein, obwohl die Heizung aufgedreht war.

Ich verließ das einsame Haus. Ich wusste noch nicht, wohin ich gehen wollte, oder wieso ich überhaupt nach draußen ging, denn die Kälte schnürte mir beinahe den Hals zu. Meine Finger wurden kalt und sie fingen an zu schmerzen.

Ich folgte dem gepflasterten Weg, der inzwischen schon ein wenig glatt und rutschig war, und fand mich letztendlich in einem Park wieder. Und diesen Park kannte ich gut.

Hier hatte ich einen großen Teil meiner Kindheit und Jugend verbracht. Und jetzt, mit siebenundzwanzig, wieder hier zu sein, war mehr als bloß verrückt. Dabei hatte ich nur einen zehnminütigen Fußmarsch hierher. Warum war ich nicht schon früher hergekommen?

Kurzerhand setzte ich mich auf eine leere Bank, auf der glücklicherweise nur eine kleine Schicht Schnee lag. Die Bank stand direkt unter einer großen Eiche, die schon alle Blätter verloren hatte. Der Schnee auf den Zweigen und Ästen der Eiche wirkte so schön, dass ich unwillkürlich schmunzeln musste, doch dies war genauso so schnell verschwunden, wie es gekommen war.

Es schneite weiter, während die Zeit verging. Menschen, jung und alt, liefen an mir vorbei. Einige würdigten mich keines Blickes, als wäre ich ein unwichtiger Teil der Luft. Aber vielleicht war ich das auch. Ein unwichtiger Teil der Luft, ein unwichtiger Teil im Leben.
Andere warfen mir einige Blicke zu, einige besorgt, andere waren überrascht. Wahrscheinlich wäre ich das auch, wenn hier ein Mann sitzen würde, der auf die dreißig zu ging und einfach sinnlos vor sich hinstarrte.

Jemand setzte sich neben mich und ich brauchte einen Augenblick um zu realisieren, wer es war. Es war Josh. Mein bester Freund. Meine Stütze. Meine innere Hoffnung.
„Was machst du hier?", fragte er, lehnte sich zurück und schaute mich an.

Sein vertrauter Blick beruhigte mich unfassbar sehr, dabei hatte ich nicht einmal bemerkt, wie aufgeregt ich eigentlich war. Ich bemerkte, dass er - im Gegensatz zu mir - bloß einen dünnen Pullover, Jeans und schlichte Sneaker trug. Ich war in drei Oberteile, einer dicken Jacke, Jeans und Stiefeln eingehüllt. Außerdem befand sich eine Mütze auf meinem Kopf und ich hatte einen Schal um meinen Hals gelegt. Trotzdem fror ich und meine Schultern zitterten. Und er saß einfach ganz ruhig da.
„Es wird kälter", bemerkte er, schaute auf die verschneite Wiese, wo sich zwei Hunde jagten. Er beobachtete das Szenario grinsend und ich hatte nur Augen für ihn.
„Deine Schultern zittern", er hatte seinen Blick immer noch auf die beiden Hunde gerichtet. „Du solltest dich wärmer anziehen."

Noch wärmer ging es wohl kaum, dachte ich mir und schaute kurz an mir herunter, bevor ich wieder zu ihm sah und bemerkte, dass er auch endlich wieder zu mir sah. Ein Gefühl, welches ich nicht deuten konnte, explodierte in meinen Körper und ich spürte, wie es durch meine Adern floss und meinen Kopf betäubte.
„Hast du das Sprechen verlernt?", fragte er lachend. Ich schüttelte den Kopf und dabei war ich mir nicht einmal hundertprozentig sicher.

„Sag etwas", wisperte er. Seine Augen fesselten mich und ich fühlte mich wie in Trance. Wenn ich könnte würde ich am liebsten an ihn heran rutschen und seine Wärme, seine Existenz, spüren, doch ich konnte nicht. Es war zu schwierig, irgendetwas hielt mich auf. Es war die Angst.
„Ich will deine Stimme hören."

Ich wünschte mir, seine Hand zu halten. Ich konnte mich noch genau an das Gefühl erinnern, wenn er mich berührte, selbst wenn sich nur unsere Hände kurz streiften. Es war wie ein Stromschlag, der durch meinen Körper zuckte und ein Feuerwerk, welches heiß und funkend war. Aber ich konnte ihn nicht berühren. Er saß nur wenige Zentimeter von mir entfernt und trotzdem schien er so unfassbar weit weg.

„Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, warum ich hier bin", murmelte ich leise und blickte zögernd auf meine Schuhe, die mit Matsch und Schnee bedeckt waren.
„Irgendetwas hat mich hierher gebracht. Ich hatte das Gefühl, dass ich herkommen musste."

Ich sah ihn in diesem Moment zwar nicht an, doch ich wusste, dass er verständlich nickte und wahrscheinlich auf seine Unterlippe biss. Seine Lippen, die mir so warm und weich erschienen, waren so wunderschön, im Gegensatz zu meinen. Trocken, rissig und blutig. Beschämend senkte ich meinen Kopf, sodass sie von meinem grauen Schal verdeckt wurden.

„Du bist so oft hier", seine Stimme wurde vom Wind fortgetragen und schien plötzlich ganz weit weg, was mich dazu veranlagte, zu ihm zu sehen. Doch er saß immer noch da. Den Blick starr geradeaus gerichtet und mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Und urplötzlich fühlte ich mich lebendig, das hatte ich schon so lange nicht mehr gespürt.
„Es ist fast schon verrückt."
„Es ist verrückt, Josh. Es ist verrückt."

„Komm mit mir. Verlass diesen Ort und komme mit mir!", seine Stimme klang nach einer Weile fester und bestimmend. „Ich kann dir zeigen, was leben bedeutet! Ich-ich kann dich glücklich machen."
Er klang zum Ende hin verzweifelt. Ich wusste, dass es die richtige Entscheidung war, hier zu bleiben, doch ein Leben nur mit ihm, war so verlockend.
„Ich zeige dir einen Ort, wo deine Schultern nie mehr zittern müssen."

Ich wagte einen Blick um mich herum, einige Passanten sahen zwischendurch unauffällig und mit zusammengezogenen Augenbrauen zu mir herüber. Und ich fragte mich warum.

„Ich weiß nicht, Josh", sagte ich ehrlich und es tat weh. Es schmerzte so unglaublich sehr, ihn abweisen zu müssen und dabei sehnte ich mich so sehr nach ihm, seiner Stimme, seinem Lachen und seinen Berührungen. Ich vermisste seine Existenz. Es fühlte sich an, als würde mich jemand mit einer Axt enthaupten und ich bekam keine Luft mehr, als die ersten Tränen an meinen Wangen herunterliefen. Ich presste meine Augen zusammen, damit ich nicht noch mehr weinen musste.

„Tyler? Wie oft habe ich dir gesagt, dass du dich nicht nach der Ausgangssperre hinaus schleichen sollst?"
Vor Schreck fiel ich beinahe von der Bank und riss meine Augen auf. Eine kleine, dunkelhaarige Frau mit einer molligen Statur sah mich mahnend und mit verschränkten Armen vor der Brust an.

„Was machst du hier schon wieder?"
Schnell stand ich auf, klopfte den Schnee von meiner Hose, was nicht ganz einfach war, da meine Hände so eiskalt waren, dass sie bei jeder Bewegung schmerzten. Nachdem ich meinen Schal gerichtet hatte, ging ich mit der kleinen, lieblichen Frau mit.

„Ich habe mit Josh geredet."
„Was? Ich dachte, es hat aufgehört?"
Ich schüttelte den Kopf und sah auf meine Füße. Ich schämte mich zu sehr, um irgendwo anders hinzusehen. Dadurch bemerkte ich aber auch nicht, dass wir einen viel längeren Weg gingen, der über einen alten Friedhof führte. Ich schaute auf all die verschiedenen Gräber, die teilweise so stark mit Schnee bedeckt waren, dass man die Namen nicht lesen konnte.

An einem besonders schönen Grabstein blieb ich stehen, kniete mich vor ihn, um den Schnee zu entfernen. Dann konnte man endlich wieder den Namen lesen.

Joshua William Dun
du bist zu früh von uns gegangen

Vielleicht existierte er nur noch in meinen Träumen oder in meiner Erinnerung. Vielleicht träumte er von mir, vielleicht träumte ich auch einfach nur von ihm. Vielleicht existierten wir beide nicht. Vielleicht waren wir nur kleine, unwichtige Partikel in dieser Welt. Vielleicht bedeuteten wir niemanden etwas. Doch für mich war er eine ganze Welt. Meine eigene, wunderschöne Welt.

Nach einigen Minuten machten wir uns wieder auf den Weg in die Psychiatrie, in die geschlossene Abteilung, wo ich wahrscheinlich bis an mein Lebensende bleiben würde, wenn ich nicht eines Tages zusammen mit Josh an diesem schönen Ort ging, von dem er redete. Doch ich wusste eins, leben bedeutet nicht sterben.

shaking shoulders,  joshlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt