Alle Plätze sind schon belegt, als ich mich mit meinem Riesenkoffer durch die Schiebetür des Waggons 7 vom ICE Paderborn-Berlin zwänge. Seufzend stelle ich den Koffer in die Nähe der Gepäckablage und lehne mich tief ausatmend an die Wand. Das war KNAPP! Ich schaue mich im Waggon um. Eine Horde Frauen, die sich lautstark über die Vorteile von Onlineshopping unterhalten. Ein kleines, etwa vierjähriges Mädchen mit blonden Zöpfen, das sich erfolglos mit seinem älteren Bruder um den begehrten Sitzplatz am Fenster streitet. Die Mutter starrt angestrengt in ihr Hochglanzmagazin und tut so, als würde sie nichts mitbekommen. Alle anderen Fahrgäste sind mehr oder weniger still.
Ich schaue wieder auf meinen verfluchten Koffer. Ich hatte ihn heute Morgen kaum zu bekommen. Meine beiden älteren Brüder hatten sich daraufsetzen müssen, damit er zuschnappen konnte. Außerdem hatte Claudine, meine acht Jahre ältere Schwester - die es sich in den Kopf gesetzt hatte, mich unbedingt zum Bahnhof zu bringen - den Autoschlüssel nicht gefunden. Nach 20 Minuten intensiver Suche, bei der sie durch das ganze Haus rannte, dabei meinen Vater aufweckte ; eine Vase, die ohnehin potthässlich war, zu Bruch stieß und die Waschmaschine, die voller dreckiger Wäsche war, durchwühlte, fand ICH den Schlüssel schließlich im Kühlschrank neben der Wildwurst und dem Tofu-Käse. Typisch Claudine, immer mit den Gedanken woanders.
Auf dem Gleis kam ich dann doch noch rechtzeitig an, denn der Zug hatte 15 Minuten Verspätung.
Nun stehe ich hier also im Zug. Neben meinem Koffer. Zusammen mit Hunderten von Menschen, die ich nicht kenne. Es ist das erste Mal, dass ich ohne ein Familienmitglied in die Ferien fahre. Schon irgendwie seltsam. Sonst habe ich immer einen um mich herum gehabt. Etwa unsere Berner Sennenhündin Lottie, die ein Energiebündel ist und noch mehr Chaos verbreitet als Claudine. Oder meine kleine Schwester Tessie, die immer in ihren Marienkäfergummistiefeln herumläuft. Egal wo wir sind – wie etwa auf der Hochzeit meines Onkels - oder wie das Wetter ist - 30 Grad im Schatten – die Gummistiefel müssen immer mit. Meine Mutter hat es mittlerweile aufgegeben, Tessie überhaupt noch andere Schuhe zu kaufen. Tessie hat Maman einmal versucht zu überreden, die Gummistiefel auch beim Schlafen tragen zu dürfen, doch das ist ihr dann schließlich zu weit gegangen. Mittlerweile sind die Gummistiefel ziemlich abgewetzt und Tessie wahrscheinlich zu klein - was sie natürlich nie zugeben würde - sodass Maman hofft, dass die Marienkäfergummisstiefel-Phase bald enden wird. Ich bin mir da nicht so sicher.
Naja, jedenfalls würde ich drei Wochen der Sommerferien ohne meine liebenswerte, chaotische Familie verbringen und ich vermisse sie jetzt schon schrecklich.
Der Zug fährt beinahe lautlos über die Schienen, die Gegend wechselt von Industriegebiet zu Grünlandschaft, und ich beginne langsam, mit meinen Gedanken abzudriften. Aber nur bis die Schiebetür des Abteils ruckartig aufgezogen wird, ein lauter Schwall von Gelächter aus dem anderen Abteil mich aufschrecken lässt und ein Junge mit einem extrem entnervten Gesichtsausdruck, gleichzeitig telefonierend und eine kleine Reisetasche vor sich herschiebend, eintritt. Als er erkennt, dass kein Sitzplatz mehr frei ist, stöhnt er auf und lehnt sich unüberhörbar seufzend genau wie ich neben die Gepäckablage. Er nickt mir kurz zu und wendet sich wieder an sein Smartphone, um eindringlich, aber leise, auf seinen Anrufer einzureden. Unauffällig beobachte ich ihn von der linken Seite: Er lehnt etwa eine Armlänge von mir entfernt an der Wand und starrt gedankenlos aus dem gegenüberliegendem Fenster, die schlaksigen Beine entspannt ausgestreckt und die Ärmel seines karierten Hemdes zur Hälfte hochgekrempelt. Die Sonne bescheint seine zerzausten braunen Haare und lässt seine Haut gold-braun erscheinen. Als ich mich selbst ertappte, wie ich seine dunklen Wimpern anstarre, die in Vergleich zu meinen dreimal so lang sind, drehe ich mich schnell wieder weg. Wäre ja peinlich, wenn er bemerken würde, wie ich ihn anschmachtend beobachte!
An seinem iPhone 6 und dem Burberrymantel, den er lässig über seine Reisetasche geworfen hat, lässt sich sowieso erkennen, dass er ein reicher Schnösel sein muss, der von seinen Eltern das Geld hinterher geworfen bekommt.
Leicht enttäuscht über das negative Ergebnis der Persönlichkeitsanalyse wende ich mich meinem vollbepacktem Rucksack zu und hole eines der dutzenden Bücher heraus, die ich mitgeschleppt habe. In denen tauchen wenigstens immer SYMPATISCHE gutaussehende Jungen auf, die den Mädchen den Kopf verdrehen.
Vielleicht sollte ich einfach einsehen, dass solche nicht in der Wirklichkeit existieren. Luis, mein 18-jähriger Bruder, verspottet mich immer, wenn er die Massen von Büchern in meinem Zimmer sieht, die sich dort entlang der Wand stapeln. Er behauptet, dass ich so nie einen Freund finden würde, wenn ich mich den ganzen Tag im Haus verkrieche und lese. Dabei stimmt das überhaupt nicht! Okay, vielleicht ein bisschen... Aber hauptsächlich nur in den Ferien, weil dann alle meine Freunde im Urlaub sind und ich zu faul bin, irgendetwas zu tun, was außerhalb der Reichweite meines Bettes passiert. Wir können uns außerdem fast nie einen Familienurlaub leisten außerhalb unserer jährlich abwechselnden Sommerferienziele Bretagne, wo meine französischen Großeltern wohnen und der nordfriesischen Insel Amrum, auf der die halbe Verwandtschaft meines Vaters lebt.
Deswegen war ich umso glücklicher, als meine Patentante Carla vor einigen Wochen vorschlug, dass ich sie ja in den Sommerferien besuchen kommen könnte. Sie hat ein kleines Apartment im Dachgeschoss in Berlin Mitte, wo sie jeden Morgen durch ihre riesigen Fenster auf die ganze Stadt gucken kann. Jedenfalls erzählt sie das immer, wenn sie uns einmal im Jahr besuchen kommt. Besucht habe ich sie nämlich noch nie und deswegen freue ich mich umso mehr, dass ich sie für drei Wochen ganz für mich alleine habe!
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Der Sommer, der mich veränderte
JugendliteraturCecile möchte eigentlich für drei Wochen ihre Patentante in Berlin besuchen, um endlich mal ihre Sommerferien ohne ihre Großfamilie verbringen zu können. Doch dann läuft so gar nichts nach Plan und ehe sie es sich versieht, erlebt sie die drei schön...