Die nächsten drei Stunden Zugfahrt vergehen wie im Flug. Damit wir nicht aus dem Speisewagen herausgeworfen werden – nach einem Brunch bestehend aus Croissants, Obst und ganz viel Erdnussbutter haben wir so gar keine Lust mehr, zu unserem ursprünglichen Abteil zurückzukehren – bestellen wir beide immer abwechselnd Kaffee, der mir irgendwann so Herzrasen macht, dass ich völlig verdattert auf meinem Sitz hänge und hoffe, nicht frühzeitig an einem Schlaganfall zu sterben.
„Mein Gott, wie viel Koffeinanteil haben diese Kaffees bitte?" frage ich völlig verdattert meinen Sitznachbarn und packe mir ans Herz. Der bricht in schallendes Gelächter aus und blickt kopfschüttelnd auf die zwei leeren Latte Macchiato-Gläser, die kleine Espressotasse und den Cappuccino - dessen letzten Schluck ich gerade genüsslich ausgelöffelt habe - die im Halbkreis verteilt meinen Teil des Tisches einnehmen: „ Na wenn du vier davon innerhalb von zwei Stunden trinkst, solltest du dich eigentlich nicht wundern. Aber eins ist damit auf jeden Fall bewiesen. Du magst den Kaffee hier doch!" erwidert er zufrieden und lehnt sich mit verschränkten Armen im Nacken im Stuhl zurück. „Ach, Halt's Maul", murmele ich leise, damit er es nicht hört, auch wenn ich mir ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen kann. Kaffee ist auf meiner Beliebtheitsskala auf jeden Fall um einige 100 Plätze nach oben gerutscht!
Doch anscheinend hat er ziemlich gute Ohren und beugt sich neugierig wieder zu mir vor. „Wie bitte? Habe ich da Protest gehört? Verleugnet da etwa jemand seine neu entdeckte Liebe zum Kaffee, nur um vermeintlich zu beweisen, dass seine Aussage von vorhin immer noch richtig sei?"
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dir die Genugtuung gebe, darauf mit ja zu antworten!" weiche ich mit hochgezogener Augenbraue seiner Frage aus. Er grinst nur. Und meint dann nach einer Weile: „Irgendwann werde ich es noch aus dir herausbekommen. Liebe kann man nie ewig verheimlichen."
„Na, du kleiner Romantiker, dann musst du dich aber beeilen, denn in 10 Minuten sitze ich hier nicht mehr im Abteil", antworte ich spöttisch. „Wohin geht's denn?" fragt er auf einmal interessiert. „Ich fahre bis zur nächsten Station, Berlin Hauptbahnh..." „Scheisse, sind wir schon bei Berlin-Spandau?", unterbricht er mich und dreht sich hektisch zu dem Display am anderen Ende des Speisewaggons, der in der Tat anzeigt, dass wir uns gerade am Bahnhof in Spandau befinden. Hastig nimmt er sich seine lederne Reisetasche, wirft sich den Mantel über die Schulter und will schon das Abteil verlassen, als ich ihn zurückrufe: „Du willst doch nicht etwa dein kostbares Smartphone einfach hier im Zug liegen lassen?"
Er stoppt, dreht sich zu mir um, nimmt mir das iPhone aus der Hand und fängt an zu grinsen, als er mir antwortet: „Ach, ohne deine Nummer ist das Ding doch eh wertlos", zwinkert mir zu und ist im nächsten Moment aus dem Abteil verschwunden. Ich bleibe kurz verdattert stehen und frage mich, ob ich mich jetzt durch das unterschwellige Kompliment geehrt fühle oder enttäuscht bin, weil er ja leider nicht meine Handynummer hat.
Als der Zug am Hauptbahnhof zum Stehen kommt, bin ich eine der Ersten, die sich durch die Schiebetür auf das Gleis drängt, um zu verhindern, dass ich mitten in der aussteigenden Masse an Bahnfahrern verloren gehe. Trotzdem muss ich mich mühsam durch die Menge kämpfen und bleibe mehr als einmal mit meinem viel zu großen Koffer stecken. Warum habe ich auch so viel mitgenommen?
Ziemlich genervt erreiche ich den Ausgang des Berliner Hauptbahnhofes und schaue mich nach meiner Tante um. Sie hatte versprochen, sich für die drei Wochen, in denen ich sie besuche, ein Auto zu mieten, damit wir auch mal außerhalb Berlins fahren können, etwa um an den Seen in der Uckermark zu campen. Tante Carla liebt es, viel zu planen und die Tage so zu nutzen, dass man das Beste aus ihnen herausholt. Ihr Leben ist vollgepackt mit Abenteuern, mit 17 ist sie etwa von zuhause weggezogen, um Schauspielerin in Großbritannien zu werden. Sie hat einfach ohne viel Grübeln ihre Familie in Deutschland gelassen – was auch dazu geführt hat, dass sie und Paps nicht unbedingt die beste Beziehung unter Geschwistern haben – um ihren Traum zu leben. Nach einigen Jahren erfolgloser Produktionen am Theater und vielen Absagen bei Vorsprechen für Schulen hat sie dann bemerkt, dass Schauspielern eher nicht der Beruf ist, mit dem sie erfolgreich werden kann.
Da sie komplett pleite war, bat sie meinen Großvater, wieder nachhause zurückkommen zu können. Erleichtert, dass seine Tochter endlich diesen leichtsinnigen Traum aufgegeben hatte, empfing er sie mit offenen Armen, nur um nach einigen Wochen festzustellen, dass ihr nächster Lebensplan noch verrückter war: Sie wollte unbedingt Journalistin werden, aber nicht für irgendeine Zeitung, sondern für die New York Times. Großvater war entsetzt über die Naivität seiner jüngsten Tochter. Sie glaubte doch nicht ernsthaft, mit ihren 23 Jahren ohne jegliche Ausbildung bei der erfolgreichsten und berühmtesten Tageszeitung Amerikas eine Stelle bekommen zu können?
Zu Beginn schien er Recht zu haben. Natürlich konnte Tante Carla nicht einfach am Büro der New York Times anklopfen und um eine Stelle bitten. Doch ein guter Freund von ihr hatte Kontakte zu einigen lokalen amerikanischen Zeitungen und fragte dort nach, ob man eine ausländische Korrespondentin bräuchte. Carla hatte Glück: Eine Tageszeitung in Charleston, South Carolina suchte schon seit einigen Monaten nach einer europäischen Journalistin, die Anekdoten aus ihrem täglichen Leben in einer Art Kolumne schreiben sollte, die sich vom amerikanischen Lebensstiel deutlich unterscheiden würden. Meine Tante nahm die Stelle natürlich sofort an und nach einigen Monaten liefen ihren täglichen Kolumnen so gut, dass der Herausgeber persönlich sie zur Redakteurin des Feuilletons ernannte und sie bat, nach Charleston zu ziehen. Das ließ sich Carla nicht zweimal sagen und saß fünf Stunden später im Flugzeug, das sie ein Stück näher zu ihrem Traum brachte.
Vier Jahre lang arbeitete sie in Charleston und bereiste viele Städte Amerikas, um sie dann, zurück in der Redaktion, von ihren Erlebnissen, gespickt mit deutschem Humor, zu berichten. Das lief so gut, dass eines Tages National Geographic auf sie aufmerksam wurde und ihr anbot, nicht nur durch die Vereinigten Staaten, sondern durch die ganze Welt zu reisen. Auch wenn das ursprünglich gar nicht ihr Traum gewesen war, fand meine Tante Gefallen an dem Angebot und nachdem sie für eine Reportage als Titelstory drei Monate in Australien verbracht hatte, war sie vollends davon überzeugt, den richtigen Job gefunden zu haben. Was war schon die New York Times im Vergleich zu wochenlangen Reisen in fremde Länder? Da hätte sie wohlmöglich über so etwas Absurdes wie die Gewohnheiten des allgemeinen Hipsters oder über etwas Langweiliges wie die Wahlkampfergebnisse schreiben müssen. Von den Amerikanern und ihrem ungesunden Essen hatte sie auf jeden Fall zu viel – sie war jetzt Veganerin – und somit zog sie vor einem halben Jahr zurück in die Hauptstadt ihrer Heimat, um endlich mal einen festen Wohnsitz zu haben.
Ich finde es äußerst mutig, dass meine Tante sich schon so früh entschieden hat, unabhängig zu sein und nur das zu tun, was sie wirklich will. Da könnte ich mir wirklich eine Scheibe abschneiden!
Doch jetzt muss ich Tante Claire erst einmal in dem Gewusel finden. Da wir nicht ausgemacht haben, wo genau wir uns treffen und ich auch nicht weiß, wie ihr Leihauto aussieht, krame ich im Rucksack nach meinem Handy. Die Bücher liegen zuoberst und ungeschickt wie ich bin, fällt mir „Stolz und Vorurteil" von Jane Austen auf den Gehweg. Als ich es wieder hochhebe, entdecke ich eine Serviette, die wohl aus dem Buch gefallen ist. Komisch, ich kann mich gar nicht daran erinnern, dort eine hineingelegt zu haben! Ich will sie in den Mülleimer neben mir werfen, doch dann sehe ich auf der Rückseite unter einer Telefonnummer einen Satz, den wohl jemand mit Kulli über das rote Logo der Deutschen Bahn geschrieben hat:
Wenn du von deiner neu entstandenen Kaffeesucht herunterkommen willst, melde dich bei dieser Nummer.
Ich fange an, mächtig zu grinsen. Na, das kann ja nur der Junge aus meinem Abteil sein!
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Ich hoffe, dass euch die Geschichte bisher gefällt! Wenn ihr Anregungen habt, was ich noch in das Geschehen einbinden kann, schreibt mir gerne ein Kommentar :) Bis zum nächsten Kapitel.
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Der Sommer, der mich veränderte
Novela JuvenilCecile möchte eigentlich für drei Wochen ihre Patentante in Berlin besuchen, um endlich mal ihre Sommerferien ohne ihre Großfamilie verbringen zu können. Doch dann läuft so gar nichts nach Plan und ehe sie es sich versieht, erlebt sie die drei schön...