Kapitel des freudigen Wiedersehens

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„Na wer grinst denn da so fröhlich in die Gegend?" vernehme ich eine bekannte Stimme. Ich blicke mich suchend um und sehe Tante Carla in großen Schritten auf mich zukommen. „Mein allerliebstes Patenkind, welch Freude und große Ehre dich hier in der Hauptstadt Deutschlands empfangen zu dürfen!" ruft sie mir zwinkernd zu und verbeugt sich vor mir. „Verzeih mir die Verspätung, ich musste noch die Limousine abholen." Ich werde rot, muss mir aber auch gleichzeitig ein Grinsen unterdrücken, weil ich solche Begrüßungen von meiner Patentante schon kenne.

Sie liebt es die Menschen um sich herum zu irritieren, indem sie mit erfundenen Geschichten ihre Familie und Freunde begrüßt. Auch diesmal klappt ihr Schauspiel: Einige Passanten drehen sich schon verwundert zu uns um und fangen an zu tuscheln. Ich sehe mit meinem übervollen Rucksack und meinem riesigen Koffer kombiniert mit einer eher fragwürdigen Klamottenzusammenstellung aus Hoodie, kurzer Hose und abgetragenen Stiefeletten wahrscheinlich auch nicht wie jemand aus, der aus vornehmem Hause käme. Da würde ich auch zweifeln, ob meine Tante die Begrüßung so ernst meint. Um alle Zweifel an unserer Seriösität zu zerstreuen, nehme ich einen gefakten französischen Akzent an und erwidere gespielt hochnäsig:

„Merci Tante Carla, die Fahrt mit die Züg war grauen'aft, terrible! Isch verstä'e gar nischt, wie die Mensch normale es aus'ält, mit diese Monster zu fahren, c'est incroyable! Bring misch unverzüglisch zur Limousine!" Ich werfe mein langes braunes Haar über die Schulter, setze den Rucksack wieder auf den Rücken und blicke Carla gespielt hochnäsig an. Langsam beginnt mir die Sache richtig Spaß zu machen!

Nur meine Tante kann sich kaum zurückhalten. Ihre Mundwinkel zucken verdächtig und um unsere kleine Szene nicht zu zerstören, packt sie sich meinen Koffer und rollt ihn hinter sich her Richtung Parkplatz. Als wir  uns ein Stück weit vom Bahnhof entfernt haben, dreht sich meine Tante, umarmt mich fest und fängt lauthals an zu lachen: „Cecile, das war eine Meisterleistung! Die hättest mal die ganzen verdutzten Gesichter sehen müssen, als du mit deinem Akzent anfingst. Die waren völlig perplex!" Sie kichert leise weiter, während sie auf einen kleinen Fiat zusteuert.

„Na bei deiner Vorlage konnte ich ja schlecht das kleine Schauspiel schon beenden", schmunzele ich.

Mühsam stopfen wir mein Gepäck in den Kofferraum, nur um dann festzustellen, dass wir die Klappe nicht mehr zubekommen. Da auch die Rückbank voll mit Einkäufen ist, nehme ich den Rucksack letztendlich auf den Schoß und wir stürzen uns mit dem in den Berliner Verkehr.

Am Wohnhaus angekommen, steige ich schon in den Aufzug, während Carla ihren Mietwagen in einer der Seitenstraßen parkt. Ich öffne die Tür zur Wohnung und blicke mich erstaunt um:

Der kurze Flur hat mich in ein großes Wohnzimmer geführt, dessen eine lange Wand komplett durch eine bodenlange Fensterfront ersetzt wird, durch die man ganz Berlin erkennen kann. Auch wenn ich mich wohler auf dem Land fühle, beeindruckt mich die Aussicht hier im 15.Stock und ich beginne zu verstehen, warum meine Tante hierher gezogen ist. Wenn so viele Menschen auf einem Fleck wohnen, ist eine Stadt immer in Bewegung. So hat man selber auch den Drang, etwas zum Geschehen beizutragen und genau dieses Gefühl zeichnet auch meine Tante aus: Entweder hat sie ein Projekt von National Geographic am Laufen, wenn ich sie anrufe oder sie erlernt gerade ein neues Hobby, das sie auf ihrer Reise kennengelernt hat. So auch vor drei Monaten, als sie aus dem Nahen Osten zurückkam und für eine Weile fast jeden Tag exzessiv Krav Maga übte, einen Verteidigungssport, der viel in der israelischen Armee praktiziert wird.

Auf der rechten Seite führt mich das Wohnzimmer an einem Bücherregal und zwei afrikanischen Holzfiguren vorbei zur Küche, aus der es schon köstlich nach Curry riecht.

„Ich hoffe, du hast ordentlich Hunger, ich hab nämlich ausversehen für vier statt für zwei gekocht!" vernehme ich Carlas Stimme aus dem Flur.

„Ach du kennst mich doch! Bei Hühnchen mit Curry kann ich nie nein sagen." erwidere ich und nehme ihr den Koffer ab.

Der Sommer, der mich veränderteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt