32-May

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Schließlich beruhigt Harry sich wieder. Sein Blick bleibt auf meine Füße gerichtet, als wir unsere Umarmung lösen, indem ich einen Schritt nach hinten mache. Trotz des neu gewonnenen Abstands spüre ich noch immer seine Hände auf meiner Taille, die Berührung so federleicht, dass sie beinahe nicht existiert. Er hat seine Lippen fest aufeinandergepresst und hat seinen Kopf nach unten geneigt, wodurch die braunen Locken mir die Sicht auf sein Gesicht verdecken.

Ich hebe eine Hand und platziere zwei Finger unter seinem Kinn. Langsam hebe ich dies an, sodass sich auch sein Blick von meinen von dicken, warmen Socken bedeckten Füßen abwendet. Entgegen meiner Erwartungen sieht er auf die von Fliesen bedeckte Wand hinter mir und würdigt mich keines Blickes. „Sieh mich an.", fordere ich ihn sanft und mit leiser, fast flüsternder Stimme auf.

Also schaut Harry mich an. Mit Augen, dominiert von einem Grün, das eigentlich strahlen sollte und mich in seinen Bann ziehen sollte. Stattdessen ist es trüb, als wäre der Wald, an den mich diese Farbe erinnert, vertrocknet, und wird umrandet von ehemals weiß, welches nun rot und mit dünnen Adern übersäht ist. Man sieht Harry an, dass die Tränen, die sich noch vor wenigen Minuten ihren Weg über seine Wangen gebahnt haben, nicht erzwungen waren, um eine Show abzuziehen.

Nein, es tut ihm leid, dass er mich verletzt hat. Auch, wenn es nur kleine, blaue Flecken auf meinen Unterarmen sind, wird er sich diese Tat niemals verzeihen können. Er wollte mir beweisen, dass er ohne Medikamente ein normales Leben führen kann. Dass er sich im Griff hat, dass er die bösen Stimmen in seinem Kopf, von denen er mir ausführlich erzählt hat, kontrollieren und unterdrücken kann. Harry hat fest an seine mentale Stärke geglaubt, nur, um dieses Vertrauen zu sich selbst eigenhändig wieder zu zerstören.

„Welche Medikamente musst du nehmen?", frage ich, meine Stimme ist nicht zittrig und schwach, wie ich erwartet habe, sondern ruhig mit genügend Autorität, sodass Harry mir antwortet. Zwar nur stumm, mithilfe von Gesten, aber dennoch ohne jeglichen Widerstand. Er deutet auf drei verschiedene Verpackungen, die inmitten eines Arzneimittel-Chaos' liegen, wodurch er mehrmals den Kopf schütteln und noch deutlicher auf eine Packung zeigen muss, bis ich schließlich die Richtige zwischen meine Finger bekomme. Seine unverkennbar schmierige, undeutliche Handschrift wird sichtbar und hat die Verschreibungen des Arztes mithilfe eines blauen Kugelschreibers festgehalten.

Harry räuspert sich und lenkt somit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sobald mein Blick auf ihm liegt, greift er mit einer Hand nach dem pinken Plastikbecher, der auf dem Regal direkt neben dem Wandspiegel steht, und streckt die andere in meine Richtung aus. Abwartend sieht er mich an, doch öffnet seinen Mund noch immer nicht, woraufhin ich amüsiert nachforsche: „Wie lange willst du eigentlich stumm bleiben?"

„Es tut mir leid.", atmet Harry aus, seine Lippen verziehen sich zu einem schüchtern wirkenden Lächeln. Während ich noch immer darüber rätsele, ob seine Entschuldigung noch immer dem Vorfall von vor einigen Minuten oder seiner partiellen Verstummung gilt, bittet er mich leise: „Könntest du mir bitte die Tabletten geben? Ich möchte das so schnell wie möglich hinter mich bringen."

Die von ihm auf die Verpackungen geschriebenen Kritzeleien, die Zahlen und Buchstaben ergeben sollten, sind noch unlesbarer als normalerweise, als hätte Harry sie blindlings notiert. Selbst mit zusammengekniffenen Augen kann ich sie nicht entziffern und gebe schließlich dieses Vorhaben auf. Ich strecke die Hand, in der ich die Medikamente fest umschlungen halte, nach Harry aus und fordere ihn auf: „Lies mir bitte die Verschreibung vor, du schreibst, als hättest du Hufe statt Finger."

Amüsiert durch meine Bemerkung kichert er kopfschüttelnd, bevor er sich scherzend verteidigt: „Du weißt doch, dass ich keine schöne Handschrift habe. Das hat mir bereits meine Kindergärtnerin gesagt und da konnte ich noch nicht einmal schreiben."

Anschließend liest er mir die Zahlen und Wörter auf den Verpackungen der Medikamente laut vor, während er exakt die Anzahl von Tabletten auf meine ausgebreitete Handfläche legt. Meine Augen weiten sich bei der Unmenge von kleinen Pillen, die in Berührung mit meiner Haut kommen. Wenn ein Junkie vor mir stehen würde an Stelle von Harry, hätte ich darauf gewettet, dass er am heutigen Tag sein Leben nehmen will, mit Hilfe einer Überdosierung.

Auch Harry scheint meinen Blick mitbekommen zu haben, da er leise kommentiert: „Laut den Ärzten ist die Dosierung in einer Tablette nicht hoch genug für meine Psychosen." „Aber anfänglich musstest du doch nur ganz wenig zu dir nehmen.", kontere ich verwirrt und sehe ihm zu, wie er den pinken Plastikbecher in seiner Hand mit Wasser anfüllt.

Er nimmt einige Schlucke davon, bevor er mir erklärt: „Sie haben Angst, dass der Schalter in meinem Kopf plötzlich umgelegt werden könnte, durch irgendwelche Trigger in meiner normalen Umgebung. Daher halten sie mich in Zaum damit und bescheren mir verdammte Nebenwirkungen."

„Welche Nebenwirkungen meinst du?", beziehe ich mich auf den letzten Satz, der aus seinem Mund gekommen ist. Bevor er mir antwortet, greift er nach den Tabletten in meiner Handfläche und wirft sie sich alle gleichzeitig in seinen Mund. Er nimmt einen großen Schluck von dem Wasser und verzieht das Gesicht schmerzerfüllt. „Normalerweise schluckt man die Pillen nacheinander.", kommentiere ich und sehe ihm zu, wie er die Augen verdreht.

Harry öffnet den Mund und streckt seine Zunge weit hinaus, um mir zu zeigen, dass er nicht vorhat, die Medikamente auszuspucken, sobald ich ihm meinen Rücken zuwende. Anschließend räuspert sich und antwortet auf meine vorherige Frage: „Unter anderem werde ich immer vergesslicher und muss mir andauernd Notizen schreiben."

„Aber wieso sehe ich nie irgendwelche Post-Its oder Zettel?", frage ich misstrauisch nach, obwohl ich ihm liebend gerne einfach glauben will. Doch die Vergangenheit hat mich vorsichtiger im Umgang mit ihm gemacht.

„Weil ich sie immer verstecke, damit du sie nicht siehst. Du würdest mich für einen Idioten halten und mich erst recht zu den Ärzten schleppen.", teilt Harry mir mit und sieht beschämt zu Boden. Er stellt den Plastikbecher wieder auf dessen Ursprungsort und verschränkt anschließend seine Finger ineinander. Nachdem er sich geräuspert hat, flüstert er kaum hörbar: „Bitte schicke mich deswegen nicht zu den Ärzten."

Gerade, als ich im Begriff bin, ihm zu versichern, dass ich so etwas nicht tun würde, hallt die Türklingel durch das ganze Haus und dringt somit in meine Ohren. Ich gehe schnell zu Harry und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn, gleich, nachdem ich seine Locken von dieser entfernt habe. „Mach deine Abendroutine einfach fertig und warte im Bett auf mich. Komm unter keinen Umständen hinunter zu der Eingangstür, ich weiß nicht, wer uns dort erwartet.", weise ich ihn an und verschwinde schon beinahe gehetzt aus dem Badezimmer.

Ich höre noch, wie Harry nach mir ruft und mich bittet, bei ihm zu bleiben. Doch der Klingelsturm breitet in mir ein sehr ungutes Gefühl aus, sodass ich nicht auf ihn hören kann und ihn dadurch in Gefahr bringen kann.

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt