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Also fährt Harry. Da das letzte Mal, wo er hinter einem Steuer gesessen ist, gleichzeitig die Fahrt zu seinen damals noch lebenden Eltern war, zittern seine Hände. Er hat kein Gefühl für das Gaspedal, ist viel zu schnell unterwegs und bremst viel zu unsanft. In den Kurven passiert es nicht nur einmal, dass May ihn anschreit.

„Harry, bitte lass mich fahren. Du wirst uns noch in den Tod fahren."

Aber Harry hört nicht auf sie. In seinen Ohren hört er nur mehr Hochzeitsglocken, so besessen ist er von der Vorstellung, seine Geliebte zu heiraten. Am besten heute noch. Er sieht anstatt von Autos nur mehr farbige Flecken, die rasant an ihm vorbeiziehen, das Bild von May in einem Hochzeitskleid und wie sie in diesem auf ihn zugeht, vernebelt seine Sicht. Seine Finger krallen sich an das Lenkrad, so fest, dass die Knöchel bereits weiß hervortreten.

Ihre Hand auf seinem Oberarm, während sie ihn bittet, langsamer zu fahren, spürt Harry nur bedingt. In seinen Gedanken berührt sie ihn, weil sie vor dem Altar stehen und sich anlächeln. Nicht, weil er viel zu schnell unterwegs ist seine Hände zittern.

Mit zusammengekniffenen Augen sieht Harry bereits das altertümliche Gebäude, nur mehr wenige hundert Meter von dem sich noch immer rasend schnell bewegenden Auto entfernt. Als hätte er nur mehr die Kirche im Sinn, bemerkt er gar nicht den weißen Range-Rover, der direkt neben dem breiten Gehweg steht. Doch May erkennt die Gefahr, ihre Schreie hallen durch das ganze Auto:

„Harry, du musst sofort umdrehen! Dreh um, verdammt nochmal! Du wirst sterben, er wird dich umbringen."

Sie verdeckt mit beiden Händen ihr Gesicht, ihr ganzer Körper wird von Schluchzern durchgeschüttelt. Tränen fließen unaufhörlich ihre Wangen hinunter, bis sie an ihrem Unterkiefer ankommen und auf ihr T-Shirt fallen. Viel zu schnell ist ihre Atmung, die Luft nicht mehr richtig in ihren Lungen an, doch Harry fährt weiterhin auf die Gefahr zu.

„Ich liebe dich. Bitte bleib stehen.", schluchzt May leise und ist sich sicher, dass er sie nicht gehört. Genau in diesem Moment kommt der Wagen zum Stehen, als hätte man ihre Stoßgebete erhört. Sie spürt eine große, warme Hand auf ihrem Oberschenkel, die die Haut dort sanft massiert.

„Ich möchte dir etwas zeigen, May. Komm mit.", redet Harry auf sie ein, während sie ihre Hände von ihrem Gesicht entfernt. Erschrocken und hilflos muss May zusehen, wie er sich abschnallt und die Tür öffnet. Noch einmal sieht er zu ihr, lächelt sie auffordernd an, bevor er aussteigt.

Gleichzeitig mit Brendon, die kleine Pistole in seinem Gürtel ist gut versteckt.

Blitzschnell springt May ebenfalls aus dem Auto, sprintet zu ihrem Geliebten und packt ihn am Oberarm. „Wir müssen sofort nach Hause, Harry.", fleht sie ihn an, erst jetzt bemerkt er die Tränen in ihren Augen. Er sieht den schmerzerfüllten, ängstlichen Blick und die angespannte Haltung.

Doch anstatt richtig zu handeln, wegzurennen und auf sie zu hören, platziert er einen Kuss auf ihrer Stirn und wischt die Tränen von ihren Wangen. Lächelnd versichert er ihr: „Alles ist gut, ich passe auf dich auf." Harry schlingt einen Arm um ihre Schultern und zieht ihren Körper ganz nah an seinen. „Siehst du diese Kirche?", fragt er und deutet auf das große Gebäude mit einer Fassade aus Ziegelsteinen direkt vor ihren Augen.

Er küsst ihre Wange und erklärt ihr: „Hier haben meine Eltern geheiratet, lag bevor ich geboren wurde. Jedes Jahr an ihrem Hochzeitstag haben sie mir Bilder von diesem besonderen Tag gezeigt und mir gesagt, dass sie mich eines Tages mit der Liebe meines Lebens genau hier sehen wollen." In Erinnerung schwelgend lacht Harry kurz auf und dreht sich zu seiner Verlobten, dessen Blick auf den Kircheneingang fixiert ist. „Bald werden sie uns vom Himmel aus zusehen, wie du den Gang entlanggehst, zusammen mit deinem Vater. Ich werde vor dem Altar stehen und versuchen, nicht zu weinen. Du wirst so wunderschön sein und nach der Zeremonie meinen Nachnamen tragen.", erzählt er, selbst bei dem Gedanken daran sammeln sich Tränen in seinen Augen.

„Wir werden genau hier heiraten, wie es meine Eltern wollten. Ich werde die Liebe meines Lebens in dieser Kirche küssen und nie wieder von ihrer Seite weichen. May, ich werde dich nie wieder verlassen.", lächelt Harry die Frau in seinen Armen an. Ihre Arme schlingen sich um seinen Hals und sie zieht ihn zu sich hinunter, um ihre Lippen auf seine zu legen. Die Tränen beider Menschen vermischen sich, während sie ihre Zweisamkeit genießen, inmitten einer Straße, direkt vor einer Kirche.

Als sie sich schließlich von einander lösen, sind beide außer Atem. Angst drängt sich wieder in den Vordergrund von Mays Gedanken und sie wirft einen schnellen Blick hinter ihren Verlobten. Wie erwartet steht eine ganz bestimmte, gehasste Person einige Meter entfernt von ihnen, in Begleitung von zwei Bodyguards und einem Mann, den sie nicht kennt. „Harry, wir rennen jetzt sofort zu unserem Auto und fahren nach Hause. Wir sind in Gefahr.", flüstert sie, ihre Stimme zittert.

„Wenn ihr so weiter macht, muss ich mich übergeben."

Schlagartig dreht Harry sich um, wird abrupt zurück in die Realität geholt. Keine Hochzeitsglocken ertönen, kein Priester weist ihn an, die Braut zu küssen. Alles ist verstummt, lediglich das Blut beginnt, in seinen Ohren zu rauschen. Es scheint, als würde sein ganzer Körper zu Stein erstarrt zu sein, während Brendon laut auflacht.

„Kannst du dich noch an Zayn erinnern?", fragt dieser ironisch und setzt nach einigen stillen Momenten fort: „Aber sicher kannst du das. Wieso solltest du denn auch den besten Auftragsmörder vergessen?"

May tritt neben Harry und greift nach seiner Hand, ihre Augenbrauen sind verwirrt zusammengezogen. Sie kann die Verbindung zwischen ihres ehemaligen Arbeitskollegen, der eines Tages von der Bildoberfläche verschwunden ist, und dem Begriff „Auftragsmörder" nicht erkennen. Er hat sich doch umgebracht, das haben zumindest alle gesagt, auch seine Familie.

„Das ist er.", ertönt eine Stimme direkt neben ihr und sie sieht erschrocken in Harrys Gesicht. Sein Blick wendet sich für einen einzigen Moment von Zayn ab, um ihr in die Augen zu sehen und zu erklären: „Er hat meine Familie umgebracht, ich bin mir sicher."

„Wisst ihr, ich finde es lustig, dass ihr bis jetzt nicht den Fall gelöst habt. Ihr seid Idioten, die nur Augen für einander haben und in einer pinken Seifenblase leben.", kommt es von dem kaltblütigen Mörder, seine strahlend weißen Zähne, die Harry bis in die Träume verfolgen, kommen zum Vorschein. Zayn stößt Brendon an und raunt, hörbar für alle: „Boss, eigentlich hätte ich mehr Geld für diese Aktion verlangen sollen. So viel Spaß hat es seit langem nicht mehr gemacht."

Wutentbrannt macht May einen Schritt auf die Gruppe von Männern zu, zeigt mit einem Finger auf Brendon. „Du schuldest mir eine Erklärung. Sofort.", zischt sie, bevor sich zwei starke Arme von hinten um ihre Taille schlingen. Obwohl Harry seit dieser einen verhängnisvollen Nacht nicht mehr so viel Angst hatte und diese ihn eigentlich lähmen sollte, hat er dennoch noch immer einen gewissen Beschützerinstinkt seiner Verlobten gegenüber.

Humorlos lacht Brendon auf, anschließend verzieht sich sein ganzes Gesicht, als wäre er geschlagen worden. „Du willst wirklich die ganze Geschichte hören?", schreit er zornig, seine Bodyguards packen ihn an den Armen, damit er nicht zu dem Pärchen stürmen kann. May nickt sofort und blickt zu Zayn, auf dessen Lippen sich ein unheimliches Lächeln geschlichen hat.

„Dann fangen wir ganz von vorne an."

Unfreeze / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt