Kapitel 3

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„Willst du mir nicht endlich sagen, was passiert ist und warum du so aufgewühlt bist?", fragte ich, als wir zurück in der Jugendherberge waren.

Jay, der den ganzen Weg geschwiegen und sich ständig umgesehen hatte, strich sich nun durch seine schwarzen Haare und sah mich fragend an. Er schien in Gedanken gewesen zu sein.

„Äh, was? Hast du was gesagt? 'tschuldige, Carolin."

„Carol.", verbesserte ich.

„Was? Ja, mein ich doch."

Ich blinzelte und versuchte es dann von Neuem. „Ich hab dich gefragt, warum du so aufgewühlt bist."

„Ich? Aufgewühlt?" Er tippte mit dem Fuß auf dem Boden, fuchtelte mit seinen Händen herum, als wüsste er nicht wohin mit ihnen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er konnte mir ja erzählen, was er wollte, aber dass er nicht aufgewühlt oder nervös sei, das konnte er nicht bringen.

„Okay, weißt du was?"

Ich stemmte die Hände in die Hüfte und funkelte ihn wütend an.

„Ist deine Sache, geht mich auch überhaupt nichts an. Tut mir leid, dass ich gefragt habe."

Ich schaute ihm in seine grüne Augen und merkte, dass er immer noch nicht ganz bei der Sache war.

„Jay? Jay, ich geh jetzt meine Eltern suchen, die machen sich bestimmt schon Sorgen. War schön, dich kennen gelernt zu haben. Wir seh'n uns."

Als ich mich zum Gehen wandte, riss er die Augen auf und packte mich am Arm. „Nein, warte."

Ich hob eine Augenbraue und sah ihm ernst ins Gesicht.

„Was ist?" Er ließ mich los, schien sich etwas gefangen zu haben.

„Ähm, weißt du... Lass uns doch erstmal normale Klamotten anziehen. Danach können wir ja noch was gemeinsam machen, oder?" Er rang sich ein Lächeln ab.

„Mh", machte ich. Er würde mir wohl nicht erzählen, was in beschäftigte, aber vielleicht konnte ich ihn ja etwas ablenken, sodass er auf andere Gedanken kommen und nicht mehr so zerstreut sein würde. Und er war ja eigentlich gar nicht so übel, obwohl er keinerlei Charakterähnlichkeit mit seinem Zwillingsbruder zu haben schien.

„Mh", machte ich noch einmal. „Okay. Ja, klingt gut."

Meinen Eltern würde ich zwar noch Bescheid geben müssen, schließlich hatte ich sie ohne weitere Erklärung stehen gelassen, aber das würde ich nach dem Umziehen erledigen. Ich ging also an Jay vorbei und schnurstraks zu den Toiletten und wollte gerade die Tür hinter mir schließen, da bemerkte ich, dass Jay mir gefolgt war.

Er schien wieder in Gedanken zu sein, schaute über seine Schulter. Ich war inzwischen stehen geblieben, er lief weiter und stieß somit an mich. Ich kicherte leicht und verdrehte die Augen.

"Was ist los?"

Ich grinste. „Du weißt schon", sagte ich, „dass du dich in der Damentoilette befindest?"

Ich werde das nie vergessen: Wie er erstarrte, dann hinter mich schaute und gleichzeitig so rot wurde wie eine Tomate. Ich folgte seinem Blick, lächelte der alten Dame zu, die ihn missbilligend anstarrte.

Jay hob eine Hand. „Tut mir leid, ich... äh.. ich bin dann mal weg." Und dann stürmte er die Tür hinaus.


Nachdenklich wechselte ich die Kleider. Jay hatte sich nach dem Telefonat so komisch verhalten und sagen, was ihn beschäftigte, wollte er auch nicht. Aber das ist in Ordnung, sagte ich mir. Vielleicht ist es ja auch etwas zu aufdringlich von mir gewesen, dass ich ihn mit Fragen gelöchert und gleich so wütend reagiert habe. Schließlich kennen wir uns ja auch erst seit heute.

Aber manchmal ist das vielleicht so. Manchmal trifft man jemanden, der einem von Anfang an sympathisch vorkommt und es sich nach wenigen Stunden schon so anfühlt, als würde man sich schon lange kennen. Und ich spreche hier nicht nur von Jungs, das ganz gewiss nicht. Bei meiner besten Freundin und mir war es ganz genauso. Ich beschloss Jay zu verzeihen und ihn ab jetzt mit meinen Fragen in Ruhe zu lassen. Ich wollte unsere neue Bekanntschaft nicht so schnell durch meine eigene Dummheit zerstören.

Ich strich mir über meinen neuen grauen Pulli und ließ alle Bedenken los. Dann nahm ich meinen blauen Schlafanzug in die eine Hand und öffnete die Tür mit der anderen.

Vor Schreck ließ ich meine Sachen fallen. Ich stand wie erstarrt da und vergaß plötzlich zu atmen.

Ich vergaß, wieso ich hier war. Ich vergaß, wer ich war. Ich konnte nur eins tun: Die Hände heben.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ganz langsam blickte ich an der Pistole, die zwischen meine Augen gerichtet war, vorbei zu dem stämmigen Mann, der sie hielt.

Ich musste mein Kinn ein wenig recken, um sein Gesicht zu sehen. Dann schaute ich wieder auf die Pistole. Im Augenwinkel bemerkte ich eine Person, die am Boden lag. Ich befahl mich genauer hinzusehen.

Die alte Dame, die Jay vorhin so missbilligend angesehen hatte, lag in einer Blutlache, die Arme weit von sich gestreckt, auf dem kalten Boden, die Augen weit aufgerissen.

Ich schluckte. Der Mann gab mir zu verstehen, mich zum Fenster zu begeben. Ich folgte seiner Anweisung.

Und während ich aus dem Fenster sprang, hallte nur noch ein Gedanke in mir wieder. Wieso?


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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 10, 2017 ⏰

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Der Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt