Kapitel 1

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„Soll ich dir helfen?"
Das war die Stimme meiner Mutter, die gerade selbst mit zwei Koffern versuchte, vorwärts zu kommen.

Ich hatte einen Koffer in der einen Hand, ein Buch und Handgepäck in der anderen.

„Nein, Mama. Du hast doch selbst schon genug zum Tragen. Und außerdem bin ich kein Kind mehr", erwiderte ich leicht genervt. Als ob ich meine Sachen nicht alleine tragen könnte.
Ich erblickte die Jugendherberge schon von Weitem.

Die Aufschrift „Meeresblick" prangte über dem Eingang. Man konnte es also gar nicht verfehlen. Mit eiligen Schritten ging ich voran, meine Mutter und mein Vater kamen hinterher.

Als ich rein ging, bot sich mir eine große, leere Eingangshalle. Links von mir waren rote Sessel und gerade aus waren Treppen. Rechts war ein kleiner Raum. An der Tür war ein Schild befestigt, auf dem „Rezeption" zu lesen war. Ich stellte meine Sachen ab und sah, wie auch meine Eltern leicht erschöpft ihre Sachen nieder lagen. Gemeinsam mit ihnen trat ich in die bereits offene Tür hinein und sah, wie ein junger Mann sich bereits mit der Frau, die hinter dem Tresen saß, unterhielt. In den Raum fiel wenig Licht, weswegen wohl zusätzlich eine kleine Lampe auf dem Tresen brannte.

„Heißt das..."
Der Junge schien zu merken, dass jemand hinter ihn getreten war, sodass er sich mitten im Satz unterbrach, kurz nach hinten zu uns schaute und dann wieder zu der Frau blickte.

"Heißt das, ich muss jetzt die ganze Zeit warten, bis ich wieder in mein Zimmer kann?"

Der Ton seiner Stimme war genervt, fast schon aggressiv. „Ja, ich bedaure."

Ich beobachtete, wie er sich umdrehte und an uns vorbei stürmte. Kurz war Stille.

„Also.. wir haben uns ein Zimmer reserviert", hörte ich meine Mutter sagen.
Doch ich hörte nicht weiter zu und ging aus dem kleinen Raum hinaus, zurück in die Empfangshalle. Der Junge, der zuvor an uns vorbei gestürmt war, kam mir irgendwie bekannt vor. Er saß auf einer der roten Sessel, in der Mitte war ein kleiner Tisch aus Mahagoni. Auf dem Tisch waren Zeitschriften ausgebreitet. Ich blickte wieder zu ihm.

Er hatte eine Hand an den Kopf gestützt, seinen Ellbogen hingegen auf seinem Knie. „Christian?", fragte ich unsicher.

Der Junge blickte auf und ich konnte ihn nun in Ruhe mustern. Er hatte dunkle Haare und grüne Augen, die nun überrascht in meine schauten.

„Ich kenn' dich aus der Grundschule, glaub ich."

Der Junge überlegte und lächelte dann leicht. „Du musst mich mit meinem Zwillingsbruder verwechseln", sagte er.

„Christian hat einen Zwillingsbruder? Das wusste ich gar nicht, tschuldigung."

„Macht nichts. Ich bin Jay."
Ich nickte. „Carol."
Plötzlich fiel mir auf, dass er gar nicht normale Sachen trug. Er... er hatte einen Schlafanzug an? Ich konnte einfach nicht anders, als zu lachen.

"Sag mal Jay, warum trägst du noch einen Schlafanzug?"

Seine Mundwinkel zuckten, doch er blieb ernst. „Die Heizung ging nicht, also bin ich vorhin runter, um es zu melden. Die Frau meinte dann, sie schickt jemanden hoch. Als ich dann gehen wollte, sagte sie, ich könne nicht in mein Zimmer gehen, weil ich den zuständigen Mann sonst bei der Arbeit stören würde. Und so muss mich wohl damit abfinden, im Schlafanzug hier zu sitzen und zu warten."

„Du könntest doch in die Stadt gehen und dir was zum Anziehen kaufen", schlug ich vor.

„Denkst du echt, ich will im Schlafanzug von hunderten Leuten gesehen werden?", fragte er mich.
„Ach komm, das wird lustig, ich geh auch mit." Ich musste grinsen.

Er sah mich komisch an und erwiderte: „Ja, für dich. Du musst ja nicht mit einem Schlafanzug durch die Stadt rennen."

Ich merkte, wie mein Grinsen breiter wurde. „Ja, ich muss nicht. Aber ich will."

Als ich aus dem Bad kam, bemerkte ich den ungläubigen Blick von Jay, der mittlerweile aufgestanden war, und hin und her lief. Nun blieb er stehen. „Das meinst du doch nicht ernst, oder?", fragte er.

Ich blickte an meinem Körper herunter. Ich hatte meinen dunkelblauen Schlafanzug angezogen, der glücklicherweise lange Ärmel hatte. „Seh ich so aus, als würde ich Witze machen?", antwortete ich mit einer Gegenfrage.

Jay zuckte die Achseln. „Naja, wie du willst. Was sagen deine Eltern dazu?"

Stimmt ja... meine Eltern...
„Ach die..."
Ich lief durch den Raum und erblickte schon bald Mum und Dad, die gerade dabei waren, aus dem kleinem Raum raus zu gehen.

"Ich geh mit Jay in die Stadt, bis dann", meinte ich und deutete Jay, sich zu beeilen.

Ehe ich mit irgendwelchen Fragen konfrontiert werden konnte, war ich schon verschwunden. Ich hatte eine Tasche um mich gehängt, in der Geld und mein Handy drin waren. Sie war klein und blau. Passend zum Schlafanzug.

Ich wartete noch kurz, bis Jay angerannt kam und nickte ihm dann zu. „Bereit?"

„Du bist verrückt", erwiderte er schmunzelnd. „Aber ja. Bereit."

Und dann liefen wir los. Ich hatte das Gefühl, dass der Tag aufregender werden würde, als ich gedacht hatte. Ich ahnte nicht, dass sich alles an diesem Tag verändern würde. Wenn ich gewusst hätte, was passieren würde, hätte ich es trotzdem so gehandelt? Ich konnte die Frage nicht beantworten. Aber das musste ich ja auch nicht.

Und so lief ich weiter.

Sorgenlos und glücklich.

Der Krieg der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt