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Die Aufregung über unsere Neuankömmling war mehr als nur deutlich spürbar. Alle rannten hetkisch durcheinander und drückten sich im Eingangsbereich herum. Besonders die jüngeren weiblichen Azubis strichen sich ständig nervös durch die Haare und kicherten wie blöd. Beinahe angewidert schüttelte ich den Kopf. Sie schienen zu vergessen, um was es hier ging. Er war Patient bei uns. Psychisch labil, alkohol- und drogenabhängig und aggressiv. Nichts mehr war von dem ehemaligen Boybandmitglied von früher übrig. Die Flügeltüren zu unserem Stockwerk – der geschlossenen Station – schwangen auf und es war, als bliebe die Zeit für einen Moment stehen, als Liam Payne, flankiert von zwei Bodyguards, auf den Gang trat. Seine Eltern liefen dicht dahinter, seine Mutter schluchzte. Ganz hinten liefen Zayn und Paul, ebenfalls mit bedrückten Mienen. Doch am Schlimmsten war der Blick von Liam selbst. Zunächst hatte er leer vor sich hingestarrt, doch als er den nun beinahe ausbrechenden Tumult um sich herum bemerkte, blitzte Zorn in seinen Augen auf.
Seine Schultern strafften sich und er sah aus wie ein wildes Tier – bereit zur Flucht... oder bereit zum Angriff.
Zayn schien am Rücken seines Freundes dessen Stimmugsumschwung erkannt zu haben und schloss eilig zu ihm auf.
„Leeyum, entspann dich. Wir alle wollen dir nur helfen!“, hörte ich ihn sagen, als die Gruppe an mir vorbei ging. Ich fing Liams Blick im selben Moment auf und stolperte unwillkürlich zwei Schritte rückwärts. Der blanke Hass sprang mir aus seinen braunen Augen entgegen. Bevor ich meine Gedanken ordnen konnte, waren Liam und seine Begleiter schon im Sprechzimmer unseres Stationsleiters verschwunden.
Ich stieß mit dem Rücken gegen jemanden und blickte auf. Hinter mir stand Michael, mein ehemaliger Ausbilder, und legte mir die Hand auf die Schulter.
„Schon schlimm, was der Ruhm mit einem machen kann.“
Ich nickte bedrückt.
Wir beherbergten oft prominente Gäste und oftmals hatten sie alle mit ähnlichen Dingen zu kämpfen.
Liam hatte es scheinbar besonders schlimm erwischt, denn er würde zunächst auf unbestimmte Zeit bei uns bleiben.
„Romy, hörst du mir zu?“
Erneut sah ich auf.
„Entschuldige Mike, was hast du gesagt?“
„In 15 Minuten Teambesprechung. Wir müssen den Betreuungsplan für ihn einteilen.“, antwortete er und deutete mit dem Finger auf die Tür, die Liam verbarg.

Nachdem man unseren neuen Patienten in sein Zimmer gebracht und seine unter Tränen aufgelöste Mutter beruhigt und verabschiedet hatte, fand sich unsere Gruppe im Aufenthaltsraum zusammen.
Alle redeten wie wild durcheinander. Ich konnte nichts anderes, als still da stehen. Ich konnte kaum in Worte fassen, wie traurig mich das alles machte. Vor ein paar Jahren hatte ich selbst im Wembley Stadium in der ersten Reihe gestanden und genau dem Menschen zugejubelt, der sich nun ein paar Räume weiter befand. Damals war Liam noch glücklich gewesen – zumindest augenscheinlich.
Gefeiertes Mitgleid von One Direction, der erfolgreichsten Boyband der Welt.
Meine Helden, meine Vorbilder.
Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Direkt nach ihrer „Where we are“-Tour 2014 hatten die Jungs eine musikalische Pause bekannt gegeben. Für viele Fans war eine Welt zusammengebrochen.

Nach einigem Hin und Her waren die Schichten für die nächsten zwei Wochen verteilt. Ich hatte mal wieder die Nachtschicht erwischt, was mich jedoch nicht störte. Im Gegenteil. Nachts war es hier nicht ganz so hektisch, nur selten gab es einmal Zwischenfällte, die die Bettruhe störten.
Als die Teambesprechung sich auflöste, blickte ich auf die Uhr. Es war erst 10 Uhr morgens. Bis Schichtbeginn hatte ich also noch 12 Stunden Zeit.
Ich holte meine Tasche aus meinem Spint, zog mir meine normalen Klamotten an, schlüpfte in meinen Trenchcoat und verließ die Station. Auf dem Heimweg zu meiner WG fing es an zu nieseln. Entspannt reckte ich mein Gesicht dem Himmel entgegen. Nichts empfand ich beruhigender als Regen. Ich kam an einem Supermarkt vorbei und beschloss noch eine Kleinigkeit einzukaufen. Wie ich meine Mitbewohner kannte, würde der Kühlschrank die nächsten Tage sonst leer bleiben.

Mit vollen Tüten schloss ich schließlich eine Dreiviertelstunde später die Tür zu unserer WG auf. Mit einem Blick erkannte ich, dass meine Mitbewohner noch zuhause waren und mit Sicherheit noch schliefen.
Ich räumte die Einkäufe in den tatsächlich leeren Kühlschrank, setzte Kaffee auf und ging schließlich mit einem dampfendem Becher zum Zimmer neben der Küche. Ich klopfte mehrmals an die Tür und trat ein, obwohl ich keine Antwort bekam.
Ohne Umschweife öffnete ich die Rolläden, stieß das Fenster auf und ließ frische Regenluft ins Zimmer.
„Chuck, du solltest schon seit über einer Stunde in der Uni sein!“, rief ich und zog meinem großen Bruder die Bettdecke weg. Verschlafen und mit abstehenden Haaren blinzelte er mir entgegen.
Ich drückte ihm den Kaffee in die Hand und er bedanke sich mit einem undefinierbaren Murren, ehe er einen Schluck nahm.
Ich ließ mich auf sein Bett fallen und grinste ihn an.
„Was haben sie zu ihrer Verteidigung vorzubringen, mein Herr?“
An seinen blauen Augen, konnte ich sehen, dass er in seine Tasse hineingrinste.
„Meine Verteidigung heiß Sarah und ist erst vor einer halben Stunde gegangen.“
„Sarah? DIE Sarah? Hast du sie endlich geknackt? High-Five, Mister.“
Ich hob die Hand und lachend schlug Chuck ein. Er war als Aufreißer bekannt und scherte sich selten darum, was aus seinen One Night Stands wurde.
„Oliver schläft auch noch?“, fragte ich und mein Bruder zuckte mit den Schultern.
„Hab mein Zimmer noch nicht verlassen. Aber erzähl erstmal, wie ist Payno?“
Ich legte den Kopf schief und seufzte.
„Du weißt, dass ich darüber nicht reden darf. Außerdem lerne ich ihn erst später persönlich kennen. Hab Nachtschicht.“
Chuck warf einen Blick auf die Uhr.
„Dann schleif ich Oli mal mit in den Hörsaal, du gehst schlafen und bevor du heute Abend los musst, koche ich dir was.“
Ich nickte. Das klang definitiv nach einem guten Plan.
Während ich in der Küche stand und die Spühlmaschine aus und wieder einräumte, hörte ich, wie Chuck seinen besten Freund weckte.
Die beiden waren jeweils zwei Jahre älter als ich und wohnten schon zusammen seitdem sie volljährig geworden waren. Als ich dann auch von zuhause ausziehen wollte, suchten sie sich eine größere Wohnug und quatierten mich bei sich ein. Da Chuck nicht nur mein großer Bruder, sondern auch mein bester Freund war, konnte mir das nur recht sein. Auch mit Oliver verstand ich mich ziemlich gut und hatte keine Probleme mir eine Wohnung mit ihm zu teilen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er gerne etwas engeren Kontakt zu mir hätte, doch er hatte zu große Angst vor Chuck. Auch das war mir ganz recht. Oli war nicht wirklich mein Typ.
Hatte es bis jetzt überhaupt jemanden gegeben, der mein Typ war? Also abgesehen von irgendwelchen Celebrity-Crushes, die ich als Teenager hatte, war da eigentlich niemand, für den ich besonders geschwärmt hätte... bis... bis auf den einen der mir mein Herz gebrochen hatte.
Ich war gerade 16 gewesen und hatte ihn auf einer Party kennengelernt. Wir hatten uns gut verstanden, Nummern getauscht und uns einige Male getroffen. Ich hatte mich ziemlich schnell in ihn verliebt und er hatte mir vorgegaukelt, dass es ihm genauso ging. Wenn wir alleine waren, verhielten wir uns wie ein Pärchen, doch in der Öffentlichkeit tat er beinahe so, als wären wir nur flüchtige Bekannte. Das ging so lange, bis ich ihn spontan besuchen wollte und ihn in flagranti mit einer anderen Tussi im Bett erwischt hatte. Seitdem hatte ich mich nie wieder jemandem geöffnet. Deshalb hatte ich auch verhältnismäßig wenige Freunde. Ich hatte Chuck und Oliver... und zwei drei Leute von der Arbeit. Und das war es dann auch schon.
Niemand wollte mit jemandem befreundet sein, der keinen an sich ranließ und nichts von sich preis gab.
Ich schaltete die Spühlmaschine an und schlurfte in mein Zimmer. Ein paar Stunden konnte ich mich noch hinlegen, dann würde Chuck mir etwas leckeres zu essen machen und dann würde ich zur Arbeit gehen. Ein nervöses Kribbeln machte sich in mir breit.
Der Blick mit dem Liam mich bedacht hatte... dieser Blick löste etwas in mir aus...
Angst. Ich hatte Angst vor Liam Payne.

If you've got any good left, I want to set it free.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt