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Ich löste meinen Blick von Liam und ging zu meinem Platz zurück.
Während der nächsten Stunden ging ich die Behandlungspläne der letzten Wochen durch, suchte nach Lücken, die ich mit Informationen zu füllen hatte und erstellte schließlich für die neuen Patienten die neue Pläne, die es dann nur noch auszufüllen galt. Dann ging ich unsere Bestellliste durch, überprüfte welche Materialien noch vorrätig waren und welche schon wieder auszugehen drohten.
Gegen halb drei gingen die beiden Schwestern mit Andrew zusammen in ihre halbstündige Pause, ihre Pieper jedoch immer griffbereit. Ally war dabei unseren Aufenthaltsraum und die kleine Küche darin aufzuräumen. Das tat sie immer, wenn sie nichts zu tun hatte. So war ich es, die schließlich die Schreie vom Ende des Flures her hörte. Ich wusste sofort, wer die Quelle war.
Schnell stand ich auf und lief den Gang entlang. Auf dem Weg zu Liams Zimmer, wusste ich bereits, was mich erwartete. Pavor nocturnus. Liam war mit einer Panikattacke schreiend aus dem Schlaf erwacht. Ein Krankheitsbild, das ich zur Genüge kannte. Mein Bruder hatte kurzzeitig an dieser Störung gelitten, als er gerade 16 geworden war. Ausgelöst durch Schulstress wachte er nachts regelmäßig schreiend auf. Wenn meine Eltern ihn hatten beruhigen wollen, hatte er immer wie wild um sich geschlagen. Nur als ich schließlich meine Arme um seine Mitte geschlungen und ihn festgehalten hatte, hatte er sich beruhigt und war sozusagen wieder aufgewacht.
Seiner kleinen Schwester hatte er nie etwas tun können. Noch nicht einmal sein Unterbewusstsein.
Ich hatte Liams Tür erreicht und ersparte es mir, durch das Sichtfenster zu spähen. Ich zog den Ausweis aus meiner Tasche, öffnete die Tür und stürzte ins Zimmer.
Mike hätte mich ausgeschimpft, weil ich so unvorsichtig war.
Liam wälzte sich noch immer schreiend in seinem Bett umher. Ohne nachzudenken, setzte ich mich auf ihn, um seine Beine still zu halten und packte dann seine Handgelenke. Er war ohne Frage hundert mal stärker als ich, doch in diesem Fall war es nur das Bewusstsein, dass ihn jemand an den Bewegungen hindern wollte, dass ihn dazu brachte ruhiger zu werden.
Nachdem er sich nicht mehr gegen mich wehrte, bemerkte ich, dass er nun scheinbar wach war. Im schwachen Licht, dass durch den Flur ins Zimmer drang, sah ich, dass seine Augen sich in meine bohrten und im nächsten Augenblick eiskalt wurden.
„Runter von mir.“, knurrte er und wollte mich schon an der Hüfte packen, um mich auf den Boden zu werfen. Doch ich war schneller und kletterte von ihm herunter, um dann sofort das Zimmer zu verlassen. Ich verschloss die Tür und hatte noch immer kein Wort gesagt.
Schnurstracks ging ich in die Küche und setzte noch einmal heißes Wasser auf. Nachdem der Pfefferminzetee durchgezogen war, nahm ich Honig aus einem der Küchenschränke und gab einen halben Teelöffel von dem klebrigen Süß in den Pappbecher. Ich griff nach einem Kaffeekragen, stülpte ihn über den Becher, damit ich ihn tragen konnte und ging damit zurück zu Liams Zimmer.
Ich schloss auf und als ich eintrat musste ich nicht erst nachfragen, um festzustellen, dass er noch wach war.
Ich stellte mich vor sein Bett und hielt ihm den Becher mit dem heißen Tee entgegen. Wieder etwas, was mehr als unvorsichtig war. Wie schnell hätte er mir den Becher entreißen und mir die heiße Flüssigkeit ins Gesicht schütten können.
„Was ist das?“, fragte er mit rauer Stimme und sah mich misstrauisch an.
„Pfefferminztee mit Honig. Hat meinen Bruder nach diesen Attacken immer geholfen. Danach schläft es sich besser.“
ROMY, WAS TUST DU DA? Schoss es mir durch den Kopf. Es war... nunja, nicht untersagt, aber definitiv nicht erwünscht, dass das Personal private Sachen an Patienten weitergab.
Liam musterte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte und streckte dann langsam die Hand nach dem Becher aus. Seine Finger streiften meine und zu meiner Überraschung war nicht ich diejenige, die zusammenzuckte, sondern er. Schnell nahm er mir den Tee ab und senkte dann den Blick.
Er führte den Becher an die Lippen und nahm einen Schluck. Er machte keine Anstalten mir das Getränk wieder um die Ohren zu werfen, also zog ich mich langsam zurück.
„Gute Nacht.“, wünschte ich ihm noch, bevor ich die Tür ergriff und hinter mir zuzog. Kurz bevor sie ins Schloss viel kam es mir so vor, als hätte ich ein geflüstertes „Danke“ vernommen.

Schuldbewusst schlurfte ich zu meinem Platz an der Rezeption zurück.
Ally saß ebenfalls wieder vor ihrem Computer und warf mir einen beinahe tadelnden Blick zu.
„Du weißt, dass das verantwortungslos war.“, murmelte sie mir zu und ich nickte.
„Was, wenn er dir gegenüber auch gewalttätig geworden wäre, wie heute Mittag schon?“
„Ist er ja nicht.“, gab ich kleinlaut zurück.
Ally legte den Kopf schief. „Wenn er sich dann mitten im Entzug befindet, solltest du vorsichtiger sein. Du weißt, dass sie dann unberechenbar werden. Spätestens übermorgen fangen bei ihm die ersten Entzugserscheinungen an. Das wird kein Spaß mit ihm werden.“
Mir fiel auf, dass sie alle von ihm sprachen, als wäre er ein Schwerverbrecher. War ich etwa die Einzige, die sich Gedanken machte, ob er vielleicht das Opfer in der ganzen Geschichte hier war? Doch ich sagte nichts und nickte nur erneut.
Nachdem die anderen von ihrer Pause zurück waren, erhob ich mich und ging hinunter in die Cafeteria. Ich ließ mich an einem kleinen Tisch nieder und zerupfte gedankenverloren den Blaubeermuffin, den ich mir gekauft hatte.

LIAM POV.
Ich musste zugeben, dass sie Eindruck bei mir hinterlassen hatte. Es war lange her, dass mich jemand ganz neutral angesehen hatte. Normalerweise waren die Blicke, mit denen man mich bedachte mitleidig, ängstlich, vorwurfsvoll oder wütend. Doch ihr Ausdruck war... ganz normal.
Am Morgen hatte ich sie verschreckt, das wusste ich. Doch nun hatte sie keine Angst mehr vor mir.
Als ich mit meiner Panikattacke aufgewacht war, hatte sie ohne zu zögern gehandelt. Und das mit dem Tee... das war wirklich... nett gewesen.
Ich drehte mich auf die Seite und starrte an die Wand. Wahrscheinlich war sie nur ein verrückter Fan, der versuchte Kontakt zu mir herzustellen. Wie immer. Sie würde sich niemals meinetwegen mit mir anfreunden. Wann hatte es jemals jemand mit mir ernst gemeint?

ROMY POV.
Der Rest meiner Schicht verlief relativ ruhig. Nur einmal klingelte ein Patient nach einer der Schwestern, weil er nicht schlafen konnte und nach einem Schlafmittel verlangte. Er bekam ein Placebo.
Danach war wieder alles still und ich war froh, als um 6 Uhr morgens die Ablöse kam. Die Gedanken, warum Liam so geworden war, hatten mich die ganze Zeit nicht mehr los gelassen.
Erschöpft vom vielen Nachdenken zog ich mich um und schleppte mich nach Hause. Dort musste ich feststellen, dass keiner der Jungs das Geschirr vom Abendessen weggeräumt hatte.
Ich seufzte und räumte die Spühlmaschine ein, ehe ich sie anschaltete.
Als ich kurze Zeit später in meinem Bett lag, brauchte ich eine ganze Weile bis ich endlich eingeschlafen war, nur um drei Stunden später durch einen lauten Knall wieder aufzuwachen.
Verschlafen tapste ich in meinem Schlafshirt in den Flur und stand auch schon vor dem Chaos.
Vor mir auf dem Boden knieten Chuck und Oli und vor ihnen lag etwas, dass mal unsere Regalwand aus dem Wohnzimmer gewesen war.
Olis Blick heftete sich sofort auf meine nackten Beine, doch das ignorierte ich geflissentlich. Ich stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete grimmig die Beschehrung.
„Was macht ihr denn da? Gehört das Demolieren unserer Einrichtung jetzt zu euren Freizeitbeschäftigungen?“
Chuck sammelte die Splitter und einzelteile der ausgebrochenen Regalbretter zusammen.
„Nein, wir wollten dir eigentlich eine Freude machen und das Teil hier neu lackieren. Dazu wollten wir es in den Hof schleppen. Aber irgendwie... bin ich über meine Schnürsenkel gestolpert.“
Er wirkte zerknirscht und setzte seinen Hundeblick auf, als er zu mir hinauf blickte.
Da konnte ich ihm wirklich nicht mehr böse sein.
„Ihr macht Sachen. Wisst ihr was, ich zieh mich an und dann fahren wir ins Möbelhaus und kaufen ein neues Regal. Da ich Nachtschicht hab, verdien ich diesen Monat wieder ein bisschen mehr.“
„Sorry, dass wir dich geweckt haben.“, warf nun auch Oli ein, der seinen Blick noch immer nicht von meinen Beinen gelöst hatte. War der im Moment etwa ein bisschen Hormongesteuert?
Ich schlüpfte zurück in mein Zimmer, zog mir Jeans und mein liebstes Flanellhemd an, knäulte meine Haare zusammen und stieg in meine Sneaker.
Kurze Zeit später saß ich auf dem Beifahrersitz des Autos, welches mein Bruder nun zu Ikea lenkte. Oli hatten wir auf den Rücksitz verfrachtet.
„Also nur damit das klar ist, ich suche diesmal aus. Unserer Wohnung fehlt eindeutig ein wenig die weibliche Note.“
Möbelshopping kam mir jetzt gerade recht und würde mich zumindest bis heute Abend ein wenig ablenken.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 27, 2016 ⏰

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