Kapitel 2

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Das Klicken des zuschnappenden Gurtes und das Motorbrummen des Busses waren für mich der Startschuss dafür, dass ich wieder beginnen konnte, Musik zu hören. Zu meinem Glück hatte der Bus Steckdosen an jedem Sitzplatz und ich konnte so viel Musik hören, wie ich wollte, ohne, dass meinem Handy der Akku ausging. So viel Glück hatte ich das letzte Mal gehabt, als ich in IT am Anfang des Schuljahres den Platz direkt am Lehrerpult bekommen hatte, weshalb ich Frau Lindner heimlich über den Bildschirm hinweg beobachten konnte. Sie spielte oft gedankenverloren mit einzelnen Strähnen ihrer Haare herum oder biss sich auf die Unterlippe. Manche hätten es als störend empfunden, aber ich mochte, wie sie es tat. Ich mochte alles an ihr. Trotzdem hoffte ich, dass meine Gefühle bald vorbei waren, denn aus uns würde nichts werden. Es durfte nicht sein, denn es war verboten.

Bevor mich meine Gedanken übermannen konnten, öffnete ich den Musikplayer und tippte auf den Shufflemodus. Durch Zufall war das erste Lied etwas Fröhliches - eines aus meiner frühen Jugend. Wie lange hatte ich das schon nicht mehr gehört? Es kam mir vor wie Jahre, doch ich mochte es immer noch genau so sehr wie am Anfang, als ich es mir das erste Mal angehört hatte. Ich wippte mit meinem Kopf im Takt der Musik und freute mich schon sehr auf die Ankunft in Berlin.

Ich war zuvor noch nie selbst in der Bundeshauptstadt gewesen, sondern hatte nur von Berlin gehört. Vor allem in Geschichte, denn wir waren gerade im Themenbereich der Aufteilung Deutschlands zwischen den Alliierten und wie Russland begann, sich abzuspalten. Es war ein trauriges Kapitel in der Geschichte und ich war froh, dass ich das alles nicht miterlebt hatte. In meiner Vorstellung war in Berlin alles riesig, denn im Gegensatz zu dieser Stadt war München, das knapp eine Stunde fahrt von uns weg lag, mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern eine Kleinstadt. In der ganzen Vorfreude beschloss ich, mich wieder hinzulegen und den Rest der Fahrt zu schlafen, damit sie schneller verging.

Erneut weckte mich die Stimme von Frau Olsen: "So meine Lieben, wir halten innerhalb der nächsten zehn Minuten vor unserem Hotel. Ich bitte euch, dass ihr schnell eure Koffer aus dem Laderaum holt, weil es dort keinen Parkplatz gibt und wir auf der Straße vor dem Hotel halten müssen. Also geht schnell, einer hinter dem anderen eure Sachen holen und passt auf, dass keiner überfahren wird. Anschließend treffen wir uns nach Klassen gesammelt vor dem Hotel. Bis gleich."

Einige fingen an, vor Freude zu quietschen, andere stöhnten - genauso wie ich, weil sie geschlafen hatten - genervt auf. Zum ersten Mal sah ich hier auf die Straße und - Hölle - mir verschlug es den Atem. Die Straßen befanden sich im permanenten Stau, weil die Ampeln so kurz schalteten. Die Hochhäuser waren so dicht aneinander gebaut, dass man nicht wusste, wo das eine endete und das nächste begann. Zudem hatten die meisten mindestens dreißig Stockwerke und an der Spitze thronte oft das Logo irgendeiner bekannten Firma. Es war alles um Dimensionen größer als in meiner Heimatstadt Ingolstadt.

Ehe ich mich es versah, stand ich mit meinem Koffer in der Hand auf dem Gehsteig. Und dann sah ich sie, wie sie mit zusammengezogenen Augenbrauen versuchte, ihre Schüler zu zählen. Mein Herz fing an zu rasen und ich bekam eine prickelnde Gänsehaut am ganzen Körper. Sehnsüchtig sah ich zu ihr hinüber und blendete die Welt um mich herum aus. Sie war so wunderschön, wie sie sich nervös immer wieder ihre Haare hinter ihr Ohr strich und wie sie unruhig mit ihrem Schuh auf dem Boden-

"Geh mal weiter, du blockierst alles!", wurde ich von hinten angemotzt.

Was?

"Man dummes Kind!", regte sich ein Mädchen aus meiner Klasse über mich auf. Ich war wohl mitten im Weg stehengeblieben. Fuck war das peinlich. Hoffentlich hatte sie davon nichts mitbekommen. Und wenn doch? Sie musste mich jetzt wohl für den größten Idioten halten. Fuck.

Beschämt atmete ich einmal tief durch, bis ich an ihr vorbeiging und ihr zulächelte, doch sie schien mich nicht zu bemerken, geschweige denn zu beachten. Wow, jetzt hatte ich mich zur Vollidiotin des Jahrgangs gemacht und dann ignorierte sie mich. Meine Wangen mussten sich vor Scham rot gefärbt haben, denn ich spürte, wie heiß diese waren. Ich musste Ruhe bewahren und dankte Dini im Stillen dafür, dass sie sich zu mir gesellt hatte.

"Was war das vorher denn bitte?", lachte sie und schloss im Gehen ihren schwarzen Mantel.

"Ähm. Es gab Wichtigeres, als weiterzugehen", antwortete ich ihr und sah dabei kurz über meine Schulter zu ihr.

Laut meinen Freunden war ich schwer zu ertragen, wenn ich verliebt war, denn ich hatte die Angewohnheit, nur noch von meiner Herzensdame zu reden oder alles und jeden mit ihr zu vergleichen. Sie war dann mein neuer Maßstab. Der Maßstab der Perfektion und Schönheit, den ein menschliches Wesen erreichen konnte. Ich konnte mir nicht erklären, wieso sie so perfekt war, wie keine andere. Sie war perfekter, als jede andere Frau, in die ich verliebt gewesen war.

Dini folgte meinem Blick und sah mich daraufhin wissend an. Sie deutete mir an, ihr zu folgen, was ich dann auch tat und sie hinter mir ließ. Schon von Weitem konnte ich die Masse, die aus dem zehnten Jahrgang und den Lehrern bestand, erkennen, die sich wie eine große, bunte und undurchdringliche Kreatur vor dem Eingang des Hotels breitgemacht hatte. Besonders auffallend waren die Lehrer, die versuchten, ihre Klassen mit allem, was sie hatten, zu sich hinzulotsen. Bei dem Gedanken daran, wie es an einem Flughafen zugehen würde, wenn die Fachschaft meiner Schule die Navigation übernehmen würde, musste ich kichern. Wenn sie das schon nicht mit Schülern hinbekamen, wie sah das dann mit tonnenschweren Flugzeugen aus? Aber die bessere Frage war: Wie zur Hölle sollte ich meine Klasse finden?

Ich stellte mich immer wieder auf die Zehenspitzen und spähte über die ganzen Köpfe hinweg. Im Getümmel konnte ich plötzlich die lockigen, braun-blonden Haare meiner Klassenleiterin Frau Olsen erkennen. Das war aber auch langsam Mal Zeit geworden!

"Da ist Frau Olsen!", rief ich meiner Freundin zu und bevor sie irgendetwas realisiert hatte, zog ich sie schon an ihrer Jacke hinter mir her.

Ich bahnte uns den Weg durch die ganzen Menschen, die dicht an dicht gedrängt herumstanden. Und da stand sie. Meine Klasse. Einige fehlten zwar noch, aber der Großteil war schon anwesend. Unsere Lehrerin begann durchzählen und rief immer mehr Leute zu sich, die sie entdecken konnte.

Als endlich alle da waren, wurden uns unsere Zimmer zugeteilt, was wir aber schon im Voraus - in der Woche davor, weshalb Frau Olsen leider Gottes eine Deutschstunde opfern musste - besprochen hatten. Dazu bekamen wir noch grüne Bänder, die von dieser Sorte waren, die man nie wirklich abbekam und auch nicht zerreißen konnte, obwohl sie aus irgendeinem Papier bestanden. Sozusagen die Nokias unter den Eintrittsbändern. Ich wickelte es eng um mein dünnes Handgelenk und schob den schwarzen Ärmel unseres selbst designten Abschlusspullovers darüber. Er war noch ganz weich innen, da ich ihn heute zum ersten Mal trug.

Dini und ich hörten noch, dass um 18 Uhr das Abendessen stattfinden würde und gingen dann ins Treppenhaus.

Das Hotel war sehr groß. Es hatte sechs Stockwerke, eine Bar, einen großen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Essensausgabe, einen Speisesaal im Keller und eine Dachterrasse, von der man einen guten Ausblick auf den Ku'damm hatte.

'Zimmer 424' las ich auf der Karte und das bedeutete: Ich durfte meinen Koffer jetzt erst mal in den vierten Stock schleppen. Na toll. Zum Glück war er, vergleichsweise zu dem von Dini, ein Winzling. Wahrscheinlich würden die Aufzüge komplett überladen sein, denn wir hatten einige Mädchen, die gefühlt ihr gesamtes Mobiliar mit auf die Abschlussfahrt genommen hatten.

In den langen Fluren war ein flauschiger, roter Teppich ausgelegt, der meine schwarzen Boots darin ein Stück weit versinken ließ. Das Hotel war jetzt schon wie ein Traum. Ich hoffte, dass unser Dreierzimmer genau so toll sein würde. Und das war es. Der Boden war aus dunkelbraunem Holzlaminat, das kein ächzendes oder sonstiges Geräusch von sich gab, wenn man darauf trat. Das Zimmer endete in einem Fenster, das die komplette Wand einnahm und einen wundervollen Ausblick auf Berlin gab. Ich stellte staunend meinen Koffer neben dem Doppelbett ab und ging ins Bad. Es hatte zwar kein Fenster, aber war trotzdem hell und hatte eine großzügige Glasdusche mit einem Duschkopf, der drei Wassereinstellungen und sogar die Simulation von Regen hatte.

In der Zeit, in der ich das Badezimmer bewundert hatte, hatten sich Manuela und Dini schon mal ihre Betten ausgesucht. Manuela schlief mit mir im Doppelbett und Dini hatte das Einzelbett an der Fensterwand in Beschlag genommen. Ich wagte einen Blick auf den Gang, um zu sehen, wer die folgenden Zimmer belegt hatte. Zum einen sah ich gegenüber von uns, dass einige Schüler aus meiner Ethikklasse ihr Zimmer bezogen hatten, ein paar Mädchen waren eines weiter und kicherten über irgendetwas. Und dann ging plötzlich jemand um die Ecke. Dieser jemand war sie. Im Vorbeigehen lächelte sie mich kurz an und richtete dann ihren Blick starr auf das Plastikkärtchen in ihrer Hand. Jetzt war ich zufrieden. Zufrieden mit allem. Mit dem Zimmer, der Aufteilung, dem Hotel und natürlich damit, dass sie mitgefahren war.

Berlin love [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt