Ben

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Sie war bereits seit zwei Wochen weg. Hatte sie es geschafft? Hoffnung stach sanft in seinem Herzen, Hoffnung das Vergangene wieder neu aufleben zu lassen. Aber die Gewissheit wurde mit jedem Tag klarer und ihm wurde bewusst, dass es ein „wir“ niemals mehr geben würde. „Scheiße.“ Stieß er heraus und brach in Tränen aus. Sein holzverkleidetes Zimmer schien ihn auszulachen und begann munter vor sich hin zu knirschen. Seine Tränen liefen weiter und er bildete sich ein, sie riechen zu können. Ihre sanfte Duftnote, aus einer Mischung aus Pfeilchen und Lavendel bestehend schien vor ihm zu schweben und verzweifelt versuchte er soviel davon einzuatmen, wie es ihm nur möglich war. Als der Geruch nicht mehr zu riechen war, ließ er die Luft als einen gewaltigen Stoß aus seiner Nase schießen, verschluckte sich dabei, ging in die Knie und heulte auf dem Boden weiter. „Ich pass auf mich auf, ich schaff das schon.“ Ihr tapferes Lächeln stahl sich in seinen Kopf und seine Mundwinkel zuckten, als wollten sie es erwidern.

Ein Gong schreckte ihn aus seiner Lethargie und er sprang auf, wischte sein Gesicht an seinem Tshirt ab und ging so schnell er konnte heraus. Dabei küsste er den Anhänger den er trug und flüsterte ein letztes Mal „Ich liebe dich.“
Tageslicht zerfraß seine Augen und er presste seine Lidern zu ganz schmalen Schlitzen. Verschwommen konnte er einen Personenstrom sehen, auf dem Weg in die Kathedrale. Er stolperte in Richtung dieses Stroms und ließ sich von der Masse tragen. Alle trugen schwarze Klamotten, zerschlissene Kutten, dreckige Wamsen. All ihre Gesichter waren grausig leer und unglaublich blass. Angst stieg in ihm auf, doch er kämpfte sie nieder. Sie fühlten keine Schmerzen, keine Angst, keine Freude, keine Liebe. Sie waren eine gefühlskalte Masse, verrückt. Absolut verrückt, er wusste das und Serrey wusste das. Sie wollte sie daraus holen. Sie, ihre Schwester und ihn. Was sie dabei stehts verdrängt hatte, war das ihre Schwester selber verrückt war. Fünf süße Jahre alt, aschfales Haar, stehts leere träumende Augen. Nie sprach sie ein Wort, wie die anderen. Sie war ein Teil der Masse.
Er spürte ihre Hände an seinem Rücken, die Ellenbogen von Vielen in seinem Bauch. Zischend stieß er die Luft aus, aber es war normal. Nach so einem Marsch kam er nie ohne blaue Flecke nachhause. Serrey hatte ihn jedes Mal inspiziert, sie jedes Mal eingecremt. Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen.
Sie erreichten die Kathedrale und jeder nahm routiniert seinen Platz ein. Er saß zwischen zwei alten Frauen. Zwischen der einem und ihm blieb ein freier Platz, der von Serrey. Eine Flasche mit silberner Flüssigkeit wurde von Person zu Person gereicht und jeder steckte einmal seinen Finger rein. Als er die Flasche erhielt und kurz davor war zum ersten Mal seinen Finger hineinzuhalten, sah er ihre Schwester. Sah sie, wie sie den Kopf drehte, ihn schräg legte und schrie.
Sie schrie in einer Gläser zerstörenden Tonlage und bekam dafür direkt einen Schlag ins Gesicht. Der rote Striemen zeichnete sich sofort ab und ihr Auge begann anzuschwellen. Doch sie starrte ihn nur an und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er gab die Flasche weiter. Er versuchte krampfhaft nicht den Blick zu heben um nicht von dem Leuchten der Kathedralenwänden besessen zu werden. Es war grausig still, nur ein gelegentliches Schluchzen, gefolgt von einem Schlag unterbrach die Stille. Er rief sich Liedtexte in den Kopf, um die Stille zu füllen. Liedetexte aus längst vergangenen Tagen, mittlerweile gab es keine Lieder mehr. Keine Lieder und keine Musik. Nur leuchtende Wände und Flaschen mit Sinnesberaubenden Substanzen.

Alles fing mit der Werbung an. 2010, ein völlig normaler Schultag. Überall auf den Reklametafeln wurde ein neues Produkt angekündigt und angepriesen. Überall im Internet ging es nur um DAS Produkt und auch in den Schülergesprächen kam DAS Produkt häufig vor. Es half gegen alles. Gegen Konzentrationsprobleme, gegen Übergewicht, gegen Depressionen, einfach gegen alle grausamen Alltagsprobleme. Und der Grund für seine Population war – es half wirklich. Politiker schworen drauf und warben dafür, Lehrer beschlossen es in ihren Schulalltag zu integrieren und Eltern drehten es ihren Kindern an. Auf der Arbeit konnte man darauf auch nicht verzichten, da man sonst weniger Produktiv war und eine Kündigung drohte. Innerhalb drei Monate hatte es die ganzen Industrieländer eingenommen. Was diese nicht wussten, war, das die dritte Welt Länder dieses Produkt auch bekamen. Unter einem anderen Namen, zum gleichen Preis wie Wasser. Innerhalb sechs Monaten war die ganze Welt infiziert.
Im siebten Monat begann sich die Werbung zu ändern.
Die Menschen standen mit offenen Mündern gebannt vor den Leuchtreklamen, mit weitaufgerissenen Augen. Sie sahen aus wie Junks auf einem ausgesprochen fesselnden Trip. Die Menschen hörten auf zu hetzen, hörten auf zu gehen, sie begannen zu schlurfen. Nicht aufeinmal, die Veränderung brauchte drei Wochen. Kaum einer bemerkte die Veränderung, dass Gefährliche was begann seinen Lauf zu nehmen. Und denen die es bemerkten wollte keiner zuhören. Häufig sagten sie „jaja“ und schlurften weiter. Besessen von ihrer Aufgabe, tiefenkonzentriert, absolut fokussiert.
Er, Ben, nahm auch DAS Produkt. Allerdings ließ die Werbung ihn kalt – er trug Kontaktlinsen. Als alle um ihn zu schlurfen begannen, hörte er auf DAS Produkt zu nehmen. Etwas in ihm Schrie stopp und er beschloss dem Folge zu leisten. Es war verdammt schwer damit aufzuhören. Sein Körper reagierte mit Schweißaufbrüchen, Schlaflosigkeit, Magenkrämpfen und rückkehrenden Depressionen. Er verspürte häufig den Drang sich umzubringen, sollte er das wirklich durchziehen wollen. Aber er kämpfte all das nieder, schloss sich in seinem Zimmer ein und begann Songtexte aufzuschreiben. Songtexte von Liedern, die das Radio noch vor wenigen Wochen rauf und runter gespielt hatte. Vor einer Woche waren alle Sender tot gewesen. Eine Woche vorher begannen  die Menschen weniger zu reden. Jetzt redeten sie gar nicht mehr. Seine Eltern gingen zur Arbeit, jeden Tag, brachten nur Essen mit, setzten sich vor dem Fernseher und ließen sich von der Werbung forttragen. Einmal hatte er seine Mutter zaghaft probiert anzusprechen, sie hatte ihn mit einer Vase abgeworfen. Sein Schädel dröhnte noch Tage später, aber er überlebte es.
Einen Monat später begannen die ersten Menschen zu sterben. Vorher hatten Krankheiten die Runde gemacht, aber keiner ist zum Arzt gegangen, keiner hatte sich Medikamente geholt. Keiner hatte sich eine Pause gegönnt. Sie sind einfach weitergeschlurft, blass und ausgemergelt. Manche kippten auf der Straße um, manche fielen darüber. Als wären sie in Trance.
Ben beobachtete das alles aus seinem Fenster aus. Dunkle Schatten umhüllten seine sonst so strahlenden Augen und sein schwarzes Haar hing ihm strähnig vom Kopf. Er unterschied sich nicht groß von den anderen, Hygiäne schien auch nicht mehr wichtig zu sein. In diesem Moment wurde ihm auch klar, dass seit drei Monaten kein einziges Auto mehr an seinem Fenster vorbeigfahren war. Der Frühling begann gerade und der Asphalt wurde von den ersten Blumen durchbrochen. Er schmiedete die wildesten Pläne um sein Ziel umzusetzen – zu überleben. Nichts funktionierte mehr so wie es mal war, er konnte keine elektronischen Geräte nutzen, ohne dass das gesamte Stromnetz des Hauses zusammenbrach und seine Eltern versuchte seine Tür einzutreten / zu schlagen / aufzusägen, er konnte nicht einmal „normal“ rausgehen. Wenn er sich auch nur ein bisschen anders verhielt als seine Eltern oder andere Mitmenschen, bekam er eine auf den Deckel. Behinderte er eine Person, wurde diese zur Bestie und machte anstalten ihm die Kehle durchzubeißen. Nachdem er diese Erfahrung gemacht hatte, beschloss er unauffällig zu bleiben.

Serrey lernte er im Mai kennen. Ab dem fünften Mai begannen die Glocken aller Kirchen das Dauerläuten und eine Masse von Menschen zog in Richtung Süden. Eine ungesundaussehende, dürre Masse von Menschen. Mit verfilzten, fettigen Haaren, verdreckten Airmax und zerissenen Hosen. Stumpfe Augen starrten unter den viel zu langen Haaren hervor, die den meisten ins Gesicht fielen. Aber keiner machte anstalten sie zu entfernen, sie schlurften einfach weiter. Am neunten Mai beschloss Ben den Nachzüglern zu folgen. Zu seinem erstaunen waren diese nicht infiziert oder krank. Diese waren wie er, etwas verrückt durch zu langer isolation, aber ansonsten relativ normal. Manche hörten Stimmen, andere hatten die verrücktesten Ideen und Systeme entwurfen. Aber eines war allen klar, ihre Stadt würde verbrannt werden. Am 10. Mai war der Termin angesetzt. Jetzt schon liefen einige DAS Produkt kostler durch die Straßen und verschütteten Benzin. Die Nachzügler beeilten sich. Es gab keine andere Möglichkeit, als den Weg zu nehmen den  die Verrückten genommen hatten. Alles andere war zugestellt, mit Autos, Baumstämmen, Möbeln, Müll. Die gesamte Stadt hatte eine Mauer um sich. Alle Städte hatten so eine Mauer um sich. Mit einem gemeinsamen Ausgang, zu einer großen Straße. Diese Straße war ein Bild des Grauens, plattgetrampelte Menschen hier, zerfetzte Körper da. Am zwölften Mai kamen sie bei den Verrückten an. Diese hatten damit begonnen ein Lager zu bauen. Unter ihnen war verbrannter Boden, keiner konnte sagen welche Stadt dort wohl vorher gewesen war. Sie hatten Weitsicht bis zum Horrizon, schwarzer Boden, geschwärzte Menschen auf ihnen. Die Asche fraß sich schnell in die Klamotten, fraß sich schnell in die Haut. Alle sahen schmutzig aus. Den Gestank nahm keiner mehr wirklich war, nicht einmal Ben. Sie alle begannen Häuser zu bauen, Holzhäuser, in kreisförmigen Reihen. In der Mitte der Kreise begannen die stärksten etwas riesiges zu bauen. Es wurde eine große Sanitär Anlage gebaut, unter der man sich mit Klamotten hinstellt und einmal mit Wasser übergossen wurde. Lauwarmes Wasser, anschließend kam von oben und unten Wind und man war wieder trocken. Das Wasser schien etwas desinfizierendes in sich zu haben und den Dreck schnell runter zu tragen. Allerdings änderte es nichts mit den Klamotten, diese blieben schwarz. Trotz aller Ängste stellte sich Ben unter diese Dusche und überlebte es, ohne merkliche Änderungen. Sie, die Normalen, hatten versucht ein Team zu bilden, aber irgendwie fiel es den Verrückten auf. Sie duldeten es nicht, waren immer da. Sie konnten immer nur zu zweit kommunizieren, auch nur so leise, dass kein Verrückter auch nur ein Rauschen hörte, denn sonst flogen Gegenstände. Zwei der Normalen kamen so um. Beim Wegräumen der Leichen lernte er Serrey kennen.
Sie zogen zusammen in eine der Baracken, welche je zwei Zimmer hatten, mit je einem Bett. Es wurde regelmäßig kontrolliert ob man alleine schläft, aber sie schnitten ein Loch in das Holz und schafen sich ein Sprachrohr. Mitwelchem sie stundenlang redeten, manchmal sogar Nächte durch. Sie suchten einen Ausweg, suchten nach Möglichkeiten, aber kamen zu keiner Möglichkeit. Serrey war besonders, sie hörte Stimmen. Stimmen die ihr manchmal wissenswertes zuflüsterten und manchmal Schwachsinn fabrizierten, wie sie ihm lachend mitteilte. Die Stimmen waren erst seit dem Entzug von DAS Produkt erschienen, aber sie störten sie nicht sonderlich. Sie fand sie nützlich. Ben fand es absolut verwirrend, da sie ziemlich viel wusste und jedes Mal die Begründung „Das hat eine Stimme gesagt.“ Lieferte. So wusste sie, dass Brillen und Kontaktlinsenträger gegen die Werbung imun waren. Allerdings hatten nur die wenigsten daraufhin mit dem Konsum von DAS Produkt aufgehört. Die, die aufgehört hatten, sind häufig wahnsinnig geworden, haben selbstmord begannen oder sind mit ihnen hier und schmieden heimlich Pläne. Serrey wusste, dass zu allererst die Politer DAS Produkt konsumiert hatten und somit die Legalisierung ein leichtes war. Sie wusste allerdings nicht, wer der Schaffer von DAS Produkt ist, geschweige denn was er jetzt macht. Sie wusste nur, dass es eigentlich gar nicht so schlecht ist, dass wir jetzt ein paar Milliarden Menschen weniger waren, aber das es dafür sehr schlecht ist, dass wir jetzt eine neue, brutale Gattung Monster zwischen uns hatten. Eine die genauso aussieht wie wir, einmal genauso war wie wir.

D a s   F i n a l eWo Geschichten leben. Entdecke jetzt