Miss Erna

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Erna war eine Miss. So würde sie immer in den Herzen der Dorfbewohner zurückbleiben, auf keinen Fall als die alte zerbrechliche Dame, die sich 2010 zum ersten Mal seit Jahren aus ihrem Rollstuhl erhoben hatte. 1970 trat sie für die Wahl an, sie verlor zwar das Finale, bekam allerdings den dritten Platz und unzählige Liebesbriefe, alle mit der Quintessence das IHR der rechtmäßige erste Platz gehöre. Dieser Überzeugung waren auch alle anderen Dorfbewohner, deswegen hieß sie ab 1970 Miss Erna. Mittlerweile hatte sie keine Ähnlichkeiten mehr mit der Frau von damals, das Altern hatte bei ihr mit fünfzig mächtig zugesetzt und mittlerweile wurde sie schon mindestens acht mal auf 80 geschätzt. Aber das war sie nicht, gerade mal 68. 68 und seit zehn Jahren in den Rollstuhl verbannt. Sie hatte massiven Muskelschwund in den Beinen, den Ärzten war es ein Rätsel, weshalb nur die Beine betroffen waren, aber das hatte ihr vermutlich das Leben gerettet. Ursprünglich kam bis 2010 jeden Tag eine Pflegekraft, die ihr beim Haushalt half, mal ein paar nette Worte über hatte und mit ihr Beinübungen machte, allerdings erschien diese ab August nicht mehr, sehr zu ihrem Entsetzen. Vorher hatte sie sich merkwürdig verhalten, verlernte die netten Worte und Erna hätte sie bestimmt bald gekündigt, aber sie war ihr zu vor gekommen und einfach nicht mehr erschienen. Erna hatte an ihrem Küchentisch gesessen und gewartet, von einem heißen Bad geträumt und Kreuzworträtsel gelöst, als ihr auffiel das die Pflegekraft bereits vier Stunden überfällig gewesen wäre und sie nie zu spät kam. Deshalb rollte sie zur Tür, warf einen prüfenden Blick durch den (vertieften) Spion und schloss die Tür ab. Die Leute draußen verhielten sich gruselig. Regelrecht unheimlich schlurften sie über die Straßen und das nicht erst seit Gestern. Aber die Leute waren ihr egal, sie bedauerte zwar sehr nicht in ihre Badewanne zu können, aber sie hatte so etwas schon kommen sehen. Schon 1970 wusste sie, dass die Computer nicht sicher sein würden. Deshalb hatte sie sich nie mit der Technik auseinandergesetzt und stets gebetet, dass sie bei der Apokalypse nicht dabei sein würde. Aber keiner hatte ihr zugehört und ihr Manager meinte das sie so etwas nicht sagen solle, da es ihren Ruf schaden würde. Ihr Ruf war wichtig, ihr Ruf brachte ihr Reichtum. Brachte ihr den Luxus den sie jetzt lebte, brachte ihr ein behindertengerechtes Haus und privates Pflegepersonal. Mit der letzten Pflegerin hatte sie über einen Pool für Rollstuhlfahrer philosophiert. Allerdings könnte eine Welle ihren Tod bedeuten und deshalb hatte sie es gelassen. Jetzt, wo sie wieder darüber nachdachte viel ihr auf was sie alles gelassen hatte. Die Hochzeit, das Auswandern, die Gänse, die Reisen, den Pool. Jedes einzelne geplante Treffen hatte sie seit zehn Jahren ausfallen gelassen. Jede Antwort auf einen der Briefe hatte sie sein gelassen. Sie hatte sich von der Welt entfernt und jetzt hatte sich die Welt von ihr entfernt. Die Nase rümpfend fuhr sie nach dieser Erkenntnis zum Kühlschrank und suchte sich was sie brauchte. Die kleine grüne Flasche half ihr, half ihr all dies zu vergessen und zu verdrängen. All die Diskussionen mit den Pflegern, all ihre Ausfälle. Eigentlich ist die kleine grüne Flasche ein Fortschritt, sie ist weg von dem weißen Pulver und weg von den reichen Männern. Diese Flasche machte auch warm, verursachte auch ein Kribbeln im Bauch und vor allem war diese Flasche immer für sie da. Sie ließ sie nie im Stich. „Ich liebe dich." Murmelte sie und drückte der Flasche einen Kuss auf. Die komischen Menschen hatten bereits vor drei Tagen die Stadt verlassen und vereinzelt zogen noch Nachzügler nach. Sie war froh drüber, langsam ging ihr der Sprit aus und unter diese Menschen wollte sie nicht gehen. Sie wollte einfach nur alleine sein, wieder in den siebzigern Leben und wieder Miss genannt werden. Sie wollte einen Pool, aber einen normalen. Einen auf dem sie liegen kann, schwimmen kann, leben kann. Sie wollte gesunde Beine, sie wollte funktionieren. Während dieser Gedanken färbte sich ihr Zimmer gleißend weiß und ein grausames Piepen zerriss ihr Trommelfell. Dies würde sie überleben, allerdings würde ihr der Kellerabstieg zum Verhängniss werden, da sie Taub nicht das Tropfen des Wassers hörte, ausrutschte, sich nirgends festhalten konnte und umgeben von leeren Schnapslaschen den Tod fand. Er kam schnell, so schnell wie ein Genick eben brach. Das letzte was sie sah, war das grüne, vertraute Leuchten der Flaschen und ihr letzter Gedanke gehörte einem Pool. Eine Zukunft die ihre hätte sein können, vielleicht auch wirklich war, drängte sich ihr ein. Sie, im Pool, mit anderen. Der Pool leuchtete beruhigend grün und während dieser Erkenntnis setzte auch ihr Gehirn aus.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 29, 2017 ⏰

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