Vermutlich bin ich so ziemlich die Letzte, die etwas über Liebe erzählen kann, aber Petra sagt, ich muss als Erste ran. Weil ich ihre älteste Figur bin. Also, ich bin zwar erst sechzehn, aber mich gibt es schon seit 2008.
Von Liebe habe ich wirklich keine Ahnung. Nicht, dass ich noch nie darüber nachgedacht hätte ... ich denke andauernd über Dinge nach, über sehr viele Dinge. Die Mädchen in meiner Klasse sagen oft, sie lieben ihre coolen Sneakers oder sie lieben ihr neues Tattoo oder den Frontman irgendeiner Band – aber sie mögen ihre Eltern. Das irritiert mich total. Müsste es nicht umgekehrt sein? Jungs sagen übrigens nicht so oft, sie würden etwas lieben.
Ich glaube, Liebe ist Geborgenheit. Das Gefühl, irgendwo aufgehoben zu sein, ein Zuhause zu haben und Menschen, die einen lieben, das stelle ich mir unter Liebe vor. Ich sehne mich danach, Teil einer Familie zu sein. Hat Liebe vielleicht etwas mit Sehnsucht zu tun?
„Du weißt nicht, wer du bist", das hat mir einmal eine Wahrsagerin auf einem Jahrmarkt erzählt. Es war eigentlich nur ein Spaß, und überhaupt war es Jennys Idee, mir die Karten legen zu lassen. Aber diese Kartenlegerin hat irgendwie recht, ich weiß wirklich nicht, wer ich bin. Und ich weiß nicht, ob man jemanden lieben kann, der nicht weiß, wer er ist.
Ich bin in Haiti geboren. Meine leiblichen Eltern sind tot, darum kam ich dort in ein Waisenhaus. Ich weiß nichts über meine Eltern und frage mich oft, ob ich ein Kind der Liebe bin. Oder das Produkt einiger Dollar, die den Besitzer für ein paar Minuten gekauftes Glück gewechselt haben. Manchmal frage ich mich, ob mich meine Eltern lieben würden, wenn sie noch am Leben wären, oder ob sie mich trotzdem weggegeben hätten. Dafür gibt es in Haiti jede Menge Gründe. Wenn man nicht genug zu essen hat für eine ganze Familie oder kein Geld für den Arzt. Oder wenn man schon zehn Kinder hat.
Meine Adoptiveltern wollten unbedingt ein Kind aus armen Verhältnissen aufnehmen. Das muss auch etwas mit Liebe zu tun haben, aber wohl nicht explizit mit Liebe zu mir. Sie kannten mich ja gar nicht, als sie sich für mich entschieden haben. Aber sie hätten mich bestimmt eines Tages geliebt wie ihre leibliche Tochter. Leider wurden sie am Tag meiner Adoption in Haiti erschossen.
Meine Tante Megan ist die Schwester meines Adoptivvaters, also meine Adoptivtante. Sie hat es geschafft, mich nach England zu holen, und sie hat ihr ganzes Leben für mich umgekrempelt. Damals war sie gerade 21 Jahre alt, eigentlich wollte sie noch keine Kinder in dem Alter. Meine Tante muss mich wirklich sehr lieben, und ich hab sie auch lieb. Vielleicht hat sie das alles auch aus Liebe zu ihrem Bruder getan ... aber ich bin Tante Meg so dankbar dafür, dass sie mich nicht in ein Heim gegeben hat, und dass ich bei ihr aufwachsen durfte. Liebe hat etwas mit Dankbarkeit zu tun. In England habe ich ein viel besseres Leben, als ich es in Haiti jemals hätte haben können. Trotzdem ist da manchmal diese Sehnsucht, die ich nicht erklären kann.
Ja, Liebe ist Sehnsucht.
♥
Zoé Firbeck
Schülerin, 16 Jahre, aus dem Mystery-History-Roman »LOA - Die weiße Mambo«
DU LIEST GERADE
Die Definition von Liebe
ContoWas ist Liebe? Wer kann das wissen? Gibt es eine allgemeingültige Definition, oder versteht jeder etwas anderes darunter? Wie gut, dass es hier bei Wattpad so viele Autoren gibt. Fragen wir doch einfach unsere Figuren, was ihnen zur Liebe s...