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Kurz nachdem ich die Türe der Vorratskammer geschlossen habe, höre ich, wie der alte Mann den Klavierdeckel zuklappt, aufsteht und seine Schritte sich schlurfend in Richtung Tür bewegen, die ein Klingeln ertönen lässt, als er sie öffnet und sie hinter ihm ins Schloss fällt. Wieder ist das Klirren des Schlüsselbundes zu hören und dann ist es still.
Auf einmal fühle ich mich einsam.
Ich habe mich noch nie wirklich einsam gefühlt und war traurig darüber alleine zu sein. Im Gegenteil, es gab für mich nichts Schöneres, als in Ruhe über alles Mögliche nachzudenken. Doch in diesem Moment fühle ich mich so  einsam, wie noch nie zuvor.
Das bin ich eigentlich auch. Ich bin unsichtbar und so alleine, wie ich es vorher gar nicht sein konnte.
Ich bleibe noch kurz im Schneidersitz, mit dem Rücken an die Türe der Kammer gelehnt, sitzen, fahre mit meinen Händen übers Gesicht und atme einmal tief aus.
Plötzlich halte ich es nicht mehr aus. Ich springe auf und linse vorsichtig durch den Türspalt. Niemand da, alles gut.
Auf Zehenspitzen tippele ich zu dem Klavier, dass dort in der Ecke des Cafés so unscheinbar steht.
Andächtig streiche ich mit meinen Fingern über das Holz und hebe dann vorsichtig den Klavierdeckel hoch.
Vor meinen Augen, sind die weißen und schwarzen Tasten, mit denen der alte Mann wunderschöne Melodien spielte.
Ich setze mich auf den Hocker; er macht ein leises, knirschendes Geräusch.
Ich drücke eine Taste herunter und ein Ton erklingt, der die Stille durchschneidet.
Ich setze mich aufrechter auf den Hocker.
Noch dunkel kann ich mich an den Musikunterricht aus der Schule  erinnern. Eigentlich war es ein Fach, dass ich mochte. Beim praktischen Musizieren habe ich mich immer erfolgreich gedrückt, denn es war für mich eine schreckliche Vorstellung vor all den anderen Schülern zu spielen oder zu singen, doch beim theoretischen Teil, habe ich alles mit Freude gelernt.
Deshalb weiß ich jetzt, wie die Tasten auf dem Klavier heißen und wie die Noten geschrieben aussehen.
Mein Daumen schwebt über der C-Taste. Ich drücke sie und lasse darauf die D-Note folgen, dann die E-Note und dann auch die anderen Noten, bis ich ganz oben angekommen bin.
Ich muss lächeln.
Und jetzt alles wieder zurück! Die Finger meiner linken Hand spielen die Töne immer schneller, bis auch die unterste Taste erreicht ist.
Da fällt mir ein, dass es zu jedem Ton auch eine Akkord gibt. Also spiele ich den Akkord zu jeder Note auf den weißen Tasten.
Mein Lächeln wird breiter.
Plötzlich fallen mir auch die anderen Tonleitern mit den Kreuzen und b-Vorzeichen ein. Der Musikunterricht hat sich echt gelohnt!
Meine Finger spielen die Töne immer schneller, gewöhnen sich an die Tasten und werden immer bessere Freunde mit ihnen.
Ich spiele Tonleitern auf und ab, auf und ab, auf und ab, bis meine Finger zu schmerzen beginnen.
Als ich eine kurze Pause mache, um meine Hände auszuschütteln, fällt mir auf, dass es draußen schon wieder hell ist.
Oh je! Das ist jetzt nicht war, dass ich die ganze Zeit an Klavier gesessen bin und nicht bemerkt habe, wie die Zeit vergeht! Ich klatsche mir links und rechts auf die Wangen. Wach auf Ottilie! So wirst du nicht einen einzigen Tag unsichtbar überleben!
Ich schließe die Augen.
Ich werde doch sowieso keinen Tag in meinem momentanen Zustand überleben, schießt es mir durch den Kopf. Was habe ich nur für Vorstellungen? Wie kann ich nur glauben, dass ich es schaffen kann? Es werden Menschen um mich herum sein, die dem komischen, stillen Mädchen, dass immer alleine in der Ecke sitz und schweigt, nicht aus dem Weg gehen können, weil sie es gar nicht sehen.
Ich fürchte mich davor, dass sie mir ausversehen zu nahe kommen und daran, dass jemand herausfinden könnte, dass ein unsichtbares Mädchen in diesem Cafe lebt, will ich gar nicht einmal denken.
Mir ist auf einmal kalt.
Ich öffne meine Augen wieder und mein Blick fällt auf das Klavier vor mir, das wieder nichts als unscheinbar und alt aussieht, jetzt wo es schweigt.
Vielleicht schaffe ich es doch dieser auswegslos scheinenden Situation zu entkommen.
Mir wird wieder ein kleines bisschen wärmer.
Vorsichtig schließe ich den Klavierdeckel. Der Klavierhocker gibt wieder ein leises Knarzen von sich, als ich aufstehe.
Jetzt muss ich diesen Tag in meiner kleinen Kammer überstehen und dann komme ich heute Abend wieder zu dir, Klavier.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 05, 2016 ⏰

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