♡ Uno ♡

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„Keiner weiß, was in deren Köpfen vorging, weder heute noch damals. Ich will es einfach vergessen und nicht mehr daran denken müssen."

Die Psychologin lehnte sich zurück, während das Mädchen in einem ruhigen Ton sprach.

„Wissen Sie vielleicht, warum sie mir das angetan haben?" Das Mädchen entfernte sorgfältig den Schal von ihrem Hals und ließ ihr langärmliges Shirt an der Schulter hinunter rutschen. Narben zeigten sich. Große, lange Narben.

Neugierig beugte sich die interessierte Frau nach vorne und begutachtete die in die Haut verwachsenen Wunden.

„Vermutlich war es der Zorn, der diese Menschen zerfressen hatte. Die Wut ist unkontrollierbar, wenn sie erst einmal in einem ist."

Ein lauter, verzweifelter Seufzer entglitt durch die des Mädchens zarten Lippen.

„Alice", begann die Psychologin behutsam, „Wie denkst du jetzt darüber? Immerhin liegt das Geschehen einige Jahre zurück."

Das besagte Mädchen antwortete nicht sofort, sie überlegte, was sie sagen könnte, doch die richtigen Worte wollten sie einfach nicht erreichen.

„Ich denke, dass es gut ist, was und wie es passiert ist."

Die Wörter sprudelten nur so aus ihr heraus, dass man sich konzentrieren musste, sie überhaupt verstehen zu können. Jedoch schien die Frau sie ausgezeichnet aufgenommen zu haben, denn sie machte sich einige Notizen und antwortete kurz darauf nickend: „Wir machen erhebliche Fortschritte, Alice. Wenn wir so weiter arbeiten können, wie bisher, dann wirst du bald diese Vertrauensprobleme losgeworden sein."

Alice versuchte zu lächeln, doch alles, was sich in ihrem Gesicht bildete, war eine Träne in ihren Augen, die kurz darauf sorglos über ihre Wange rollte.

„Ich hoffe es so sehr", antwortete Alice während ihre Hand zielorientiert an ihre silberne Herzkette fuhr. Darin befanden sich zwei Fotos. Eines ihres Vaters und eines ihrer Mutter. Sie liebte ihre Eltern. Während der Schulzeit standen sie immer hinter ihr und unterstützten sie, wo es nur ging.

„Wie kam es eigentlich dazu?", fragte die Psychologin.

Alice zögerte einen Moment. Ein weiteres Mal musste sie alles durchleben, zwar nicht körperlich, aber geistig. Es wäre besser, um alles verarbeiten zu können, meinte die Psychologin immer zu Beginn jeder ihrer Sitzungen.

„Es ist alles so schnell gegangen... Ich bin auf dem Pausenhof unserer Schule gewesen, dann kamen sie. Ohne, dass ich sie bemerkt hatte, griffen sie mich von hinten an. Sie faselten immer etwas von ‚Raus mit der Kohle!', doch ich hatte kein Geld bei mir. Plötzlich war da dieses Messer an meiner Kehle und ich wusste nicht, wie lange ich noch leben würde. Ich sagte immer wieder, dass ich kein Geld hätte und begann zu weinen, ich hatte einfach Angst um mein Leben. Einer dieser Jungs meinte, dass ein Lehrer käme, doch derjenige, der mich festhielt, hörte nicht auf."

Eine weitere Träne kullerte ihre pale Haut hinab. Schnell wischte sie sich mit ihrem Handrücken das salzige Wasser aus ihrem Gesicht und atmete tief durch. Das hatte ihr die Psychologin beigebracht. Vier Sekunden ein und elf Sekunden aus. Das beruhigte den Körper.

„Der Junge wollte einfach nicht aufhören, auch dann nicht, als die anderen sich verkrochen hatten. Ihm machte es Spaß meine Haut zu verunstalten, lachte dabei, während ich beinahe an meinen Schmerzen erstickte."

Alles Gesagte notierte sich die Frau und blickte dann auf Alice. Sie war so mitfühlend und nett. Das musste sie ja wohl sein bei ihrem Job. Negative Gedanken machten sich in Alices Kopf breit und sie begann lauthals zu weinen. Gefühle überkamen sie zu schnell, dass sie damit nicht zurecht kam. Die Psychologin legte ihren Stift und Block auf den Tisch und bewegte sich zu Alice, um sie in den Arm zu nehmen. Es tat gut gedrückt zu werden...

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 04, 2016 ⏰

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