Kurze Weihnachtsgeschichte

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1878: Es war dunkler Abend. Alles war schneeverhangen. Der Schnee knirschte unter meinen Füssen. Bis auf meinen Atem war das das einzige Geräusch. Keine Menschenseele kreuzte meinen Weg. Ich erreichte das Tor zum Friedhof. Ich ging als Schatten durch die prachtvollen Grabreihen zur dunkelsten, hintersten Ecke der Totenstadt. Dieser Teil ist für die Armen bestimmt. Ich kniete mich vor ein kleines Grab und griff unter meinen Mantel. Für die blutrote Rose, die ich in der Hand hielt, hatte ich mein letztes Erspartes ausgegeben.

"Ziemlich spät für einen Friedhofsbesuch, nicht wahr?" Ich hatte die dunkle Gestalt nicht bemerkt. Der Junge lehnte an einem Baum und starrte mich aus seinen blauen Augen an, in denen ich mich verlieren könnte. "Nein,", antwortete ich," für mich nicht." Ein kleiner Funke Interesse flammte in seinen Augen auf. " Das ist das Grab meiner Eltern. Sie verstarben in unserem brennenden Haus." Er sah zu Boden, als würde er mich verstehen. Er fasste unter seinen knielangen Mantel und zog eine schwarze Rose heraus. Er kam mit langen Schritten auf mich zu und kniete sich neben mir nieder. " Meine Eltern wurden ermordet", sagte er sachlich, aber ich wusste, dass er deswegen wahrscheinlich todtraurig war. Er legte seine Rose neben meine. Ich sah ihn verwundert an, da er seine Rose nicht bei sich aufs Grab legte. Er bemerkte meinen Blick und meinte;" Meine Eltern haben genug." Er schaute zu einem Grab im reichen Teil. Ich nickte, ich verstand.

Wir taten uns zusammen, da wir beide nichts hatten. Für ihn war es schwerer, weil er früher alles bekam, was er wollte. Er hieß Dean, aber ich nannte ihn gerne Di, was ihn ziemlich nervte. Dafür nannte er mich Da, weil er fand, dass Diana zu vornehm klang. Unter der Kapuze des Mantels hatte er schwarze, verwuschelte Haare, welche in diesem Jahrzehnt fehl am Platz wirkten. Des Öfteren bohrten sich seine Augen in meine Grünen, als könnte er Gedanken lesen.

Alles was wir brauchten, entwendeten wir anderen Leuten. Wie zum Beispiel an diesem Weihnachtsabend, an dem wir beim Metzger durchs Fenster einstiegen. Doch der hatte schon auf uns gewartet, da es sich herum sprach, dass öfters etwas verschwand. Wir waren gerade dabei, so viel wie möglich in unsere Säcke zu packen, als er uns erwischte. Sofort sprangen wir wieder zum Fenster hinaus, gefolgt vom Metzger, Bäcker, Händler und Schuhmacher. Wir flüchteten in ein kleines Häuschen, wo bisher unser Versteck war, doch wir hatten sie nicht abgehängt. Sie donnerten mit Äxten auf unser zerbrechliches Häuschen ein, und langsam knickte es unter den Schlägen ein. Ein Balken traf mich am Kopf, der sich von der Decke gelöst hatte. Mir wurde schwarz vor Augen. Als Letztes hörte ich noch, wie unsere Verfolger :" Frohe Weihnachten, ihr Diebe" höhnten.

Langsam gewöhnten sich meine Augen an das schummrige Licht. Ich lag im Schnee. Die Morgendämmerung war schon angebrochen. Dean kniete über mir. Zu meinem Erstaunen hatte er Tränen in den Augen. " Hey, wieso weinst du?" fragte ich mit heiserer Stimme. "Du warst wohl nur ohnmächtig. Ich dachte, du wärst tot." Ich machte das Erste und Dümmste, was mir einfiel. Ich legte eine Hand an seine Wange. Er erstarrte kurz unter meiner Berührung. Dann beugte er sich zu mir herunter und murmelte:" Frohe Weihnachten." Erst da wurde mir klar, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Ich hatte meine Gefühle nur ignoriert, damit er mich nicht wie meine Eltern irgendwann mit seinem Tod verletzen konnte. Dann berührten seine Lippen meine.

Ende.

Mein kleines Buch der SprücheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt