Meine Mama hat hier gewohnt, doch dann hat uns das Feuer geholt

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Der Vollmond schien durch das Fenster. Es war eine ruhige, friedliche Nacht. Die Welt dort draußen schlief, genauso wie auch Laurel schlafen sollte. Aber es war eine anstrengende Woche gewesen; eine viel zu anstrengende. Vielleicht hatte sie deswegen die Flucht nach vorne genommen und war gleich nach Dienstschluss in ihr gemütliches kleines Wochenendhaus im Moor gefahren. Viele hielten sie genau deswegen für verrückt, aber sie liebte die Natur einfach. Wo andere sich in den Alkohol stürzten, suchte sie die Stille und den Frieden der Wildnis. Das war ihr Ausgleich zu dem hektischen Großstadtleben. Sie führe ein Doppelleben, hielt ihr ihre beste Freundin Ann immer wieder vor und vielleicht stimmte das ja sogar, sie wusste es manchmal selbst nicht.

Seufzend stand sie nun, immer noch voll bekleidet am Fenster ihres Schlafzimmers und dachte über die Aussage ihrer Freundin nach. Dabei wärmte sie sich an einer dampfenden Tasse Früchtetee- ihre Lieblingssorte. Draußen war es Herbst geworden und da bewirkte eine Tasse Tee manchmal Wunder. Leicht fröstelnd schob sie den leicht verrutschten Schal wieder näher an ihren Hals, damit ja kein Zentimeter ihrer Haut frieren musste und schaute sehnsüchtig zu ihrem Bett. Aber an Schlaf war beim besten Willen nicht zu denken, auch wenn die Digitaluhr auf ihrem Nachttisch kurz nach zwei Uhr morgens zeigte.

Ohne die endlose Weite des Moores zu sehen, in dem es nur einen einzigen halbwegs sicheren Weg gab und dieser genau zu ihrem Haus führte, starrte sie hinaus in die sternenklare Nacht. Ihre Gedanken wollten in dieser Nacht jedoch einfach nicht zur Ruhe kommen. Zu viel war in der letzten Woche passiert. Da war zum einen der hässliche Streit mit ihrer Mutter, dann das Beziehungsaus mit ihrem jahrlangen Freund und zum guten Schluss wollte ihr Arzt unbedingt so bald wie möglich ein Gesprächstermin mit ihr. Sie hatte zwar gewusst, dass sie den Kampf gegen ihre Krankheit nie gewinnen konnte und dass der Krebs immer wieder zurückkommen konnte, aber sie hatte sich gewünscht, dass es nicht so bald passieren würde.

So ganz in ihre Gedanken versunken, bemerkte sie trotzdem noch den flüchtigen Schatten über die Weiten des Moores streifen. Sofort war sie wieder hellwach und starrte nun mit angespanntem Körper hinaus. Natürlich hatte sie von den Geschichten rund um das Moor gehört. Kindergeschichten, die zur Warnung und Abschreckung dienen sollten, damit keines der geliebten Schätze verloren ging. Aber sie war eine erwachsene Frau, die wusste, was sie tat. Früher hatte sie Horror Geschichten immer geliebt, liebte sie noch immer. Krimis gehörten ausnahmslos zu ihren Lieblingsbüchern. So lag auch „das Parfum" von Patrick Süßkind zerlesen auf ihrem Nachttisch neben einem Glas Wasser. Genauso wie sie immer einen Adrenalinkick beim Lesen solcher Geschichten bekam, spürte sie auch jetzt das Adrenalin durch ihren Körper rauschen. Da draußen im Moor war was.

Ihre Augen versuchten sich auf den immer größer werdenden Fleck in der Ferne zu richten, fast gleichzeitig spürte sie, wie sich ihre Finger um das kalte Metall einer Pistole schlossen. Nein, sie war keines der kleinen Kinder, die aus reiner Naivität in das Moor gingen. Sie hatte von Anfang an gewusst, worauf sie sich einließ und hatte sich vorbereitet. Automatisch entsicherten ihre Finger die Waffe und ihre Augen begannen das Ziel zu fixieren. Doch als Laurel es dann deutlich vor sich sah, konnte sie einfach nicht abdrücken.

Ein kleiner schlaksiger Junge ging mit gemächlichen Schritten auf das Haus zu. Dabei trug er eine alte Latzhose und ein verwaschenes kariertes Hemd. Seine Füße waren barfuß und sein Haar zerzaust. Unnatürlich bleich wirkte seine Haut und doch versuchte sie darin eine Illusion des Vollmondes zu sehen und nichts Übernatürliches. Doch eines stand sofort fest. Sie konnte auf keinen Fall mehr schießen, egal ob es nun eine Sinnestäuschung war oder nicht. Natürlich wusste sie, dass auch Kinder Serienmörder sein konnten, aber sie wollte noch immer das Gute im Menschen sehen, wollte die Unschuld der Jugend erkennen.

Vorsichtig machte sie im ganzen Haus Licht, hieß den fremden Gast willkommen. Vielleicht war es wirklich nur ein armes Kind, das sich verlaufen hatte. Mit weit offener Tür stand sie am Eingang und wartete darauf, dass der Junge zu ihr kam. Doch einige Meter vor ihr blieb er plötzlich stehen, als habe er Angst vor dem Licht und der Wärme des Hauses.

„Was kann ich für dich tun?", fragte sie betont freundlich und sah dabei in stumpfe graue Augen. Es machte ihr jedoch keine Angst, sondern ließ ihr Herz nur vor Trauer zerspringen. In diesen Augen sah er Dinge, die ein Kind in einem solchen Alter nie hätte erleben dürfen. Sofort fragte sie sich, was die Vergangenheit dieses Jungen war und fragte sich gleichzeitig, ob sie das überhaupt wissen wollte. Dieser Junge sah so verlassen und alleine aus, dass es ihr wirklich körperlich wehtat. Gespannt wartete sie auf eine Antwort.

„Ich wollte zu meiner Mummy", erklärte ihr der Junge schüchtern und sah sie dabei mit großen Augen an. Überrascht war auch Laurel. Sie lebte nun schon seit guten 10 Jahren hier und noch nie hatte sie hier eine andere Menschenseele gesehen. „Es tut mir leid, aber deine Mummy ist nicht hier", versuchte sie ihm so freundlich wie möglich zu erklären. Trauer umwölkte die blassen Augen des Kindes und Laurel wurde das Herz nun zum wiederholten Mal zerbrochen.

„Aber willst du nicht rein kommen?", bot sie dem Jungen deswegen an. Sie konnte unmöglich zulassen, dass er einfach so ging. Draußen war es kalt und das Moor war beim besten Willen kein Ort zum Alleinsein. „Nein danke", lehnte dieser jedoch ab und wand sich bereits zum Gehen, dabei murmelte er immer wieder dieselben Worte vor sich hin. „Meine Mama hat hier gewohnt, doch dann hat uns das Feuer geholt."

Irritiert und geschockt sah Laurel dem Jungen hinterher, bis dieser im Moor verschwand. Sie versuchte nicht, ihn aufzuhalten, wusste sie doch, dass es keinen Zweck hatte, aber ihr war nicht wohl dabei, ihn einfach so ziehen zu lassen. Unruhig ging sie schließlich zu Bett und fuhr am nächsten Morgen wieder in die Stadt. Doch sie ließ die Tür offen, schrieb einen Zettel für ihren nun willkommenen Gast und stellte ihm einige haltbare Lebensmittel und warme Kleidung bereit. Und doch hatte sie Angst, dass der Junge wiederkam und wollte weg. Aber seine Worte gingen ihr nicht mehr durch den Kopf.

Manchmal ertappte sie sich, dass sie mitten in einem Geschäftsgespräch diese Worte vor sich her murmelte oder dann erkannte sie sie auf einem ihrer Notizblätter wieder. Sie träumte sogar manchmal von dem Jungen im Moor. Aber sie konnte auch mit niemandem darüber sprechen, weder mit ihrer besten Freundin, noch mit ihren Eltern. Keiner würde ihr glauben. Alle würden sie für verrückt halten, denn keiner sah gerne, wenn die geliebte Tochter auf Abwege geriet und ein Haus mitten im Moor zu kaufen war ein ganz gewaltiger Abweg. Woche für Woche fuhr Laurel schließlich zu ihrem Haus, doch hier war alles wie immer. Doch die Stille war ihr nicht mehr länger willkommen, sondern jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Nachts schlief sie kaum noch und jedes kleinste Geräusch, ließ sie schweißgebadet in ihrem Bett hochfahren. Aber den Jungen schien es nie gegeben zu haben, seine Worte verloren sich im Wind. Aber in ihrem Gedächtnis schienen sie sich eingebrannt zu haben, denn sie wurde sie nicht mehr los. Überall sah sie den Jungen oder hörte seine Worte, bis sie auf offener Straße ihre Pistole zückte und um sich schoss.

Erst vor Gericht sagte man Laurel die traurige Antwort auf das Rätsel, dass sie in den Wahnsinn getrieben hatte. Am Donnerstag den 23.11. um 2.00Uhr morgens verstarben Susan und ihr Sohn William Harper durch eine Rauchvergiftung. Das alte Haus im Moor habe Feuer gefangen und beide seien am lebendigen Leibe verbrannt.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 19, 2017 ⏰

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