Wie soll ich...

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"Kheira? Kann ich reinkommen?"
Keine Reaktion.
"Kheira!"
Immer noch keine Antwort. 

Kopfschüttelnd öffnete ihre Mutter die Tür zu Kheiras Zimmer. Auf dem Bett saß ein 17 Jähriges Mädchen. Ihre Augen waren geschlossen und sie hatte den Kopf gegen die Wand gelehnt. Über ihren Ohren lagen blaue Kopfhörer. Die Musik war so laut gestellt, dass ihre Mutter sie deutlich durch das ganze Zimmer schallen hörte. 

Mit schnellen Schritten lief sie auf ihre Tochter zu und riss ihr die Kopfhörer vom Kopf. "Kheira! Ich rede mit dir!" Kheira zuckte zusammen und hob irritiert den Kopf. "Was willst du?" Ihre blauen Augen blitzten wütend. 

"Die Schule hat angerufen." 

Stille. 

Vor dem kleinen Fenster im ersten Stock schrie ein einsamer Eichelhäher. Unten knarzte eine Diele. Ihr Bruder war wohl zuhause.
Kheira drehte ihren Kopf weg. Sie starrte die Pinnwand auf der anderen Seite des Zimmers an.

"Weißt du eigentlich, was du da tust?" 

Die Bilder zeigten sie mit ihren Freundinnen. Viele Fotos waren letztes Jahr im gemeinsamen Sommerurlaub entstanden. Sie lächelte auf jedem davon. Die Bilder zeigten sie. Trotzdem hatte sie das Gefühl in das Gesicht einer Fremden zu schauen. 

"Du musst zur Schule gehen. Du kannst doch nicht einfach schwänzen! Was machst du in der ganzen Zeit, wenn wir denken, dass du im Unterricht bist? Warum erfahre ich davon überhaupt erst jetzt? Kheira, schau mich an, wenn ich mit dir rede!"  

Kheira riss ihren Blick von den alten Fotos los und fixierte ihre Mutter. Diese hatte ihre braunen Haare bloß unordentlich nach oben gesteckt. Tiefe Sorgenfalten gruben sich in ihre Stirn. Die Wangenknochen waren deutlicher zu erkennen als früher. Das gutmütige, runde Gesicht, das Kheira immer so vertraut gewesen war, hatte starke Kanten bekommen.
Man konnte fast meinen, sie wäre die Kranke. 

"Wir müssen die Pinnwand endlich abhängen", murmelte Kheira. Ihre Mutter ballte die rechte Hand zu einer Faust. "Was wird aus deinem Abschluss? Was ist mit deiner Zukunft?", presste sie hervor. 

Kheira lächelte traurig. "Ich lebe nicht mehr lange genug, um mein ABI zu machen." Die Worte quollen aus ihrem Mund, wie selbstverständlich. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, was sie da sagte. Ihre Mutter starrte sie ungläubig an. Sie ließ die Schultern sinken und stand plötzlich ganz krumm vor ihrer Tochter. Eine Träne rann über ihre Wange. 

 Gebückt ging sie zur Tür.

Kheira schluckte. "Mama, ich wollte nicht..." 

"Schon gut." Mit der Hand am Türrahmen blieb sie stehen. "Ich habe mit ein paar Leuten geredet. Dein Onkel hätte gerne, dass du ihn einige Zeit in der Klinik unterstützt. Du kannst da ein dreiwöchiges Praktikum machen." 

Kheira hob überrascht den Kopf. "Mit den ganzen eingesperrten Verrückten? Nein danke!" 

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. "Es ist eine psychiatrische Einrichtung, kein Gefängnis. Du wirst damit klar kommen müssen. Dieses Mal hast du leider keine Wahl. Es gibt eine Patientin, die er dir gerne vorstellen möchte." 

"Aber was ist mit der Schule?" Kheira machte einen letzten Versuch. Ihre Mutter war bereits in den Flur hinaus getreten. "Da du sowieso nicht hingehst, sind sie einverstanden." Sie schloss die Tür mit einem lauten Knall hinter sich.

Kheira verharrte kurz nachdenklich, dann zog sie die Kopfhörer wieder über ihre Ohren. Sie drückte auf Play und stand auf. Die Welt verschwamm vor ihren Augen. Einatmen. Ausatmen. Stehenbleiben, bis das Flimmern aufhörte. 

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