leben?

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Tag 1

Kheira lächelte verunsichert. Nala machte eine einladende Geste und deutete auf den Stuhl neben sich. Vorsichtig zog Kheira ihn ein Stück zurück, um sich setzen zu können. Dabei ertönte ein quietschendes Geräusch, als das dunkle Holz über den Gummifußboden rieb. Kheira zuckte ein wenig zusammen, doch Nala blieb ruhig sitzen und beobachtete sie weiterhin. 

Kheira räusperte sich und schaute weg. Der Augenkontakt war ihr unangenehm. Eine peinliche Stille entstand. Schließlich griff Kheira  nach einem Zettel und einem Bleistift.

Sie überlegte kurz, legte den Kopf schief, entschied sich aber dann direkt zu sein. "Bist du taub?", schrieb sie in geschwungenen Buchstaben. Fragend blickte sie Nala an. Diese wandte sich dem Blatt Papier zu und nahm Kheira den Stift aus der Hand. "Nein... Nicht vollständig zumindest. Du musst nicht alles aufschreiben." Kheira runzelte die Stirn. Sie fühlte sich seltsam dabei, dieses Gespräch so einseitig zu führen. "Wie ist das passiert?" Nala zuckte mit den Schultern. "Ein anderes Mal..."

"Woher weißt du, was ich sage?" Nala antwortete wieder mit geschriebenen Worten. "Manche Dinge verstehe ich so und wenn nicht dann..." Vorsichtig legte sie Kheira eine Hand auf die Wange und wies mit dem Daumen auf ihre Lippen. Kheira zuckte zurück. Nalas Finger waren kalt. Die Berührung dauerte nur wenige Sekunden an, dennoch kam sie unerwartet.

Nach einigen Augenblicken zeigte Nala auf Kheiras Mütze. "Warum ziehst du die nicht aus? Es ist warm hier drin." Kheira senkte denn Blick. "Die trage ich immer", murmelte sie. Nala hatte den Kopf schief gelegt und kleine goldene Sprenkel glitzerten in ihren Augen, als das Sonnenlicht darin reflektiert wurde. "Wieso?" Kheira zuckte mit den Schultern. "Ein anderes Mal..." 

Von da an verhielten sich die beiden wie zwei Raubtiere, die sich langsam umkreisten, um den anderen besser einschätzen zu können. Nala malte, Kheira saß auf ihrem Stuhl und bestaunte still, wie auf dem Blatt langsam ganze Landschaften entstanden. Nalas Augen waren leicht zusammenkniffen, ihre Stirn in sanfte Falten gelegt. Sie war vollkommen darauf konzentriert, was sie tat. In jeder bedachten Bewegung lag eine Ruhe, die Kheira fesselte. Keine der beiden hatte vor, dem anderen mehr von sich zu erzählen. Sie kannten sich nicht. Sowohl Kheira als auch Nala hatten gelernt, niemandem blind zu vertrauen. Also saßen sie bloß da. Der Raum war nur von ihren regelmäßigen Atemzügen erfüllt. Ein Bleistift kratzte über das Papier. 

Die Zeit schien nicht zu vergehen. Kheira rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Ihre Hände waren schweißnass. Sie fühlte sich nicht wohl, gemeinsam mit der Unbekannten in einem Raum. Die Stille drohte sie zu erdrücken. 

Irgendwann ertönte ein lautes Knarren. Kheira fuhr auf. Die Tür hatte sich geöffnet und ein junger Arzt streckte seinen Kopf hinein. "Kheira? Dein Onkel ist gleich soweit und kommt dann zum Ausgang. Du sollst ihn da treffen." Kheira nickte erleichtert und die Tür schloss sich wieder. 

Froh, endlich nach Hause zu können, stand sie auf und griff nach ihrem Rucksack. Sie überlegte kurz, ob sie einfach gehen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. "Das war es dann wohl für heute, hmm?" Nala schaute ihr direkt in die Augen und lächelte ein wenig verträumt. 

Kheira nickte ihr freundlich zu und machte sich dann auf den Weg zur Tür. Die Sohlen ihrer Schuhe quietschten auf dem Boden. Sie hatte die Hand bereits an der Türklinke, als sie noch einmal innehielt. Eine Sache hatte sie nicht losgelassen. "Nala? Wie viel weißt du über mich?" Nala nahm bedächtig einen Stift in die Hand und schrieb wie gewohnt ihre Antwort auf ein Blatt Papier. Kheira rieb ungeduldig ihre Hände aneinander. "Nicht viel." 

Kheira kratzte sich nervös an der Schläfe. "Was genau?" Nala verharrte kurz und es schien erst, als würde sie die Antwort schuldig bleiben. Doch dann notierte sie einige Worte. Kheira musste die Augen zusammenkneifen, um lesen zu können, was dort stand. "Dass du vielleicht sterben wirst." 

Kheira nickte langsam. Nalas braune Augen blickten traurig. Kheira drehte sich um und ging. Hinter ihr viel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Nala hatte während der ganzen Zeit kein einziges Wort gesprochen.

Irgendwie fand Kheira den Weg durch die langen Flure des Krankenhauses zu dem großen Eingangsportal wieder. Ihr Onkel wartete bereits und musterte sie abschätzend. 

"Na, wie lief es?" Kheira schüttelte den Kopf. "Kannst du mich einfach nach Hause bringen?" 

"Bitte", setzte sie noch hinzu und ihre Stimme klang erschöpft. 

Es war warm und gemütlich in dem Auto, dennoch zitterte Kheira. Sie wechselten kein Wort und Kheira war froh darüber. Sie hatte keine Lust zur reden. Müde griff sie in ihren Rucksack und zog ihre Kopfhörer heraus. Schnell waren sie an ihr Handy angeschlossen. Bis sie vor ihrer Haustür hielten, hatte Kheira die Augen fest geschlossen und ließ sich auf den Klängen treiben. Die Musik entführte sie in eine andere Welt. 

Zuhause angekommen umarmte sie ihren Onkel und wünschte ihm einen schönen Abend. Sie stieg aus. Kalter Wind blies ihr den Staub ins Gesicht. Es war Anfang Oktober und die Luft wurde langsam kälter. Die Kastanie im Garten hatte begonnen, ihre grünen, stacheligen Früchte abzuwerfen. Kheira lief langsam den Weg zum Haus entlang. Ihre Schritte knirschten im Kies. 

Vorsichtig drehte sie ihren Schlüsseln im Schloss und trat ein. Aus dem Wohnzimmer ertönten gedämpfte Stimmen. Leise schlich sie die Treppenstufen nach oben. Sie hatte es beinahe ganz bis in den ersten Stock geschafft, als dort eine Tür aufging. Kheira stieg die letzten drei Stufen hinauf. Ihre Mutter schaute ihr direkt in die Augen. Sie strich sich eine ergraute Strähne aus den Augen und runzelte sorgenvoll die Stirn. Sie sah müde aus. "Alles in Ordnung, Kheira?" 

Kheira antwortete nicht. Sie lief auf ihre Mutter zu, blieb direkt vor ihr stehen und schloss sie fest in ihre Arme. Für einige Momente fühlte sie sich wieder, wie ein kleines Kind. Alles war vergessen, sie war geschützt und umsorgt. 

Doch als sie die Augen öffnete, konnte sie über die Schulter ihrer Mutter schauen. Sie war bereits seit zwei Jahren größer als diese. Die Realität traf sie wie ein Schlag in den Bauch. Die Dinge waren längst nicht mehr so einfach wie damals. Es gab nicht mehr für alles eine Lösung. Vorsichtig löste sich Kheira aus der liebevollen Umarmung. 

"Ich hab dich lieb, Mama", murmelte sie. Dann ging sie an ihr vorbei in ihr Zimmer und schloss die Tür. Ihre Mutter blieb verwirrt zurück. Die Antwort flüsterte sie nun mehr zu sich selbst. "Ich dich auch, mein Schatz." 

Erschöpft ließ sich Kheira aufs Bett fallen und vergrub ihren Kopf in den Händen. 

Ihre Schultern waren verspannt und in ihrer Schläfe pochte ein dumpfer Schmerz. Für ihren geschwächten Körper war der Tag ein wenig zu lang gewesen.

"Ich werde vielleicht sterben", wiederholte sie mit Tränen in den Augen.

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